Noch nie haben die Schweizer Natispielerinnen die Aufmerksamkeit erlebt, die gerade auf ihnen liegt. Noch nie haben sie in der daheim in ausverkauften Stadien gespielt oder für Fanmärsche mit 14'000 Menschen gesorgt. Doch mit der Aufmerksamkeit kommt auch Druck. So viel sogar, dass auch Captain Lia Wälti davon spricht, noch nie etwas vergleichbares erlebt zu haben. Auch Pia Sundhage spricht immer wieder von enormem Druck, der auf den Spielerinnen lastet.
Doch am Sonntagabend im Spiel gegen Island bewies die Nati, dass sie dieser Erwartungshaltung, die an sie gerichtet wird, standhalten können. In einem Spiel, in dem es massgeblich um den Einzug ins EM-Viertelfinale ging, schlugen sie ein physisch überlegenes Island mit 2:0. Vom Druck, mit dem die Nati umgehen musste, war nichts zu spüren. Damit bestätigten die Spielerinnen das, was sie bereits im Eröffnungsspiel andeuteten: Die Euphorie der Zuschauenden beflügelt mehr, als sie hemmt.
Captain Lia Wälti ist das Herzstück der Schweizer Nati. Nach langer Verletzungspause stand sie gegen Norwegen während 90 Minuten auf dem Platz und zeigte eine Glanzleistung sondergleichen. Kaum ein Pass, der nicht über sie lief, kaum ein Zweikampf den sie verlor. Gegen Island spielte sie dann weniger auffällig. Wieso? Die Isländerinnen entschieden sich für eine konsequente Frau-Deckung, Karólína Lea Vilhjálmsdóttir wich der Schweizer Mittelfeldspielerin nicht von der Seite.
Und entsprechend wusste die Nati spielerisch weniger zu überzeugen als noch gegen Norwegen. Die grosse Frage, die bleibt, ist, ob Wälti gegen Finnland im letzten Gruppenspiel fit sein wird. Auf die Frage, ob ihr nun nach dem Spiel etwas weh tue nickte Wälti nur, sagte, dass sie die Schmerze vergessen sei, sobald die Hymne laufe. Doch auch Trainerin Sundhage wirkte schon optimistischer. «Sie ist erschöpft, es ist gut, dass sie einige Tage hat, um sich auszuruhen», so die Schwedin. Klar ist: Auch wenn die Schweiz gegen Island die Tore ohne Wältis direkter Beteiligung erzielen konnte - ihr Einsatz gegen Finnland wäre für die Nati eminent wichtig.
Im Vorfeld der EM wurde rund um das Schweizer oft gesagt, das Heimturnier käme zu spät für die ältere Generation rund um Captain Lia Wälti und zu früh für die kommende goldene mit den 18-jährigen für Iman Beney, Noemi Ivelj und Sydney Schertenleib. Die Talente würden noch nicht zeigen können, was sie draufhaben. Spätestens nach dem zweiten Gruppenspiel ist klar: Diese Annahme war falsch. Denn genau diese Teenager sind es, die für Furore sorgen.
Zum einen wäre da Iman Beney, die eigentliche Offensivspielerin, die von Pia Sundhage kurzerhand zur Aussenverteidigerin umgeschult wurde. Bravourös nahm die 18-Jährige diese Herausforderung an, steigerte sich in den vergangenen Spielen mal um mal und sorgte im Spiel gegen Island für mehrere Topchancen. Nach der Partie bilanziert sie: «Ich bin eine offensive Spielerin, klar fühle ich mich dort wohler. Aber wenn die Nati mich defensiv braucht, spiele ich dort.»
Neben Beney wusste am Sonntagabend auch Leila Wandeler zu überzeugen. Die 19-Jährige, deren EM-Aufgebot einer Sensation gleichkam, wurde in Halbzeit zwei eingewechselt. Prompt brachte sie frischen Wind in die Partie, spielte sich frech in den Isländischen Strafraum und sorgte schliesslich für den Assist zum 2:0. Ausserdem traf sie selbst die Latte. Wenn eines nach den ersten zwei Gruppenspielen also klar, ist, dann, dass die EM für die Youngsters nicht zu früh, sondern genau richtig kommt.
Es ist fast ein Jahr her, dass die Schweiz letztmals ein Spiel gewann und dabei kein Gegentor kassierte. Ein 3:0 war es, in Lausanne, gegen Aserbaidschan, die Nummer 74 des Fifa-Rankings. Bis zu diesem 2:0 am Sonntag in der zweiten EM-Partie gegen Island spielten die Schweizerinnen in zwölf Partien nur noch einmal zu null – beim torlosen Remis im Februar gegen… genau: Island.
Die Mannschaft von Pia Sundhage kann also Tore schiessen und gleichzeitig hinten ganz dicht sein. Und dies eben nicht gegen einen Hinterbänkler in der Weltrangliste, sondern gegen ein Team, das als Weltnummer 14 neun Positionen besser klassiert ist als die Schweiz.
Das hatte am Sonntag auch viel mit Torhüterin Livia Peng zu tun. Die Bündnerin stellte unter Beweis, dass die Schweiz eben doch kein Problem hat auf dieser Position. Auch wenn sie nie zu einer Parade in extremis gezwungen wurde, strahlte Peng viel Sicherheit aus, zeigte auch bei tückischen Flankenbällen keinerlei Schwächen und spielte auch gut mit.
Vor der EM fragte man sich: Passt das 3-5-2-System zu dieser Schweizer Mannschaft? Nach der guten Leistung im Eröffnungsspiel hiess es: Das System mit der Dreierabwehr und den beiden Aussenspielerinnen Nadine Riesen und Iman Beney funktioniert bestens. Und gegen Island? Führte die Mannschaft den Sieg herbei, nachdem Sundhage von 3-5-2 auf 4-4-2 gewechselt hatte.
Nun stellt sich die Frage: Sollten die Schweizerinnen eben nicht doch besser in dieser klassischen Aufstellung spielen? Egal, wie die Antworten lauten. Diese Fragerei bedeutet vor allem: Die Schweizerinnen können viel mehr als nur eindimensionalen Fussball. Sie fühlen sich in verschiedenen Systemen wohl, sie sind taktisch flexibel.