Wer sich in diesem Herbst dazu überwunden hat, die Spiele der Schweizer Fussball Nationalmannschaft anzuschauen, der fand bestimmt 99 oder noch mehr Gründe, um zu stöhnen ob all des Gebotenen. An der EM darf die Nati bekanntlich trotzdem mitspielen. Folgerichtig befindet sich an diesem Samstagabend in Hamburg auch ein Zettel mit der Aufschrift «Switzerland» im Lostopf.
Wer nun im Sinn gehabt hätte, ein besonders schlechtes Drehbuch für die Auslosungs-Zeremonie zu kreieren, wäre vielleicht auf diese Idee gekommen: Sobald «Switzerland» gezogen wird, sofort munteres Gestöhne einspielen. Aus einem, sagen wir mal, Film für Erwachsene.
Nun ja, die Szenerie in Hamburg hat sich genauso abgespielt. Entsprechend gross war die Irritation bei Gästen und Uefa. Schlagzeilen zum «Stöhn-Eklat» oder «Sex-Streich» liessen nicht lange auf sich warten. Ein schottischer TV-Sender unterbrach gar die Übertragung. Sich aber über dieses Drehbuch beklagen? Nein, solche Stimmen waren im Anschluss aus dem Schweizer Lager nirgendwo zu vernehmen. Eher war auf dem Gesicht von Murat Yakin ein kleines Lächeln zu vernehmen.
Deutschland, Schottland, Ungarn – das sind die Schweizer Gegner an der EM im nächsten Sommer. Was ist davon zu halten? Yakins Lächeln sagte: Hätte schlimmer kommen können. Stimmt. Zum Bespiel Spiele gegen Frankreich, Holland und Österreich. Das Problem ist nur: Auch in Deutschland, Schottland und Ungarn fürchtet man sich nicht übermässig vor dieser Gruppe.
Fünf Mal in Serie überstand die Schweiz zuletzt an einem grossen Turnier die Gruppenphase. Wer nur auf die Namen der Gegner guckt, der sieht keinen Grund, warum sich das an der kommenden EM ändern sollte. Deutschland? Schlittert von einer Krise in die nächste. Nie war die Gelegenheit so günstig, den grossen Bruder zu besiegen. Schottland? Leidenschaft und Solidarität, das schon. Aber damit alleine lassen sich an einer EM keine Spiele gewinnen. Ungarn? Aufstrebend und gewiss immer wieder geniale Momente – aber auch gut für den Zusammenbruch im entscheidenden Moment und in der Breite nicht so gut besetzt wie die Schweiz.
Diese Gruppe auf Platz 2 zu beenden, wäre darum eine realistische Zielsetzung. Nur: In der aktuellen Verfassung ist es genauso denkbar, dass die EM zum Desaster wird. Die Nati hat in den letzten sechs Monaten Rückschritte gemacht. Spiel für Spiel wurden die Probleme offensichtlicher. Trainer Yakin ist angeschlagen. Die Entscheidungsträger im Verband rangen sich zu einem Bekenntnis für ihn durch. Änderungen soll es geben, aber nur im Staff. Wie nach der WM in Katar schon.
So wirkt das alles ein bisschen, wie wenn ein Haus mit Rissen in der Fassade einfach geflickt würde, indem der Maler neue Farbe drüber streicht. Das Schweizer Motto zum Jahreswechsel heisst: Irgendwie kommt's sicher gut. Man muss nur darauf vertrauen.
Die Schweizer sind selten mit mehr Unsicherheiten im Gepäck an eine Endrunde gereist. Darum fällt es auch schwer, von einem erneuten EM-Exploit zu träumen. Aber vielleicht lässt sich das Team ja von den Erinnerungen an den Viertelfinal 2021 durchs Turnier tragen. Vielleicht hält Yann Sommer noch einmal ein paar unmögliche Bälle. Vielleicht kitzelt Xherdan Shaqiri noch ein letztes Hurra aus seinen Waden. Vielleicht inspiriert Deutschland Granit Xhaka zu Leverkusen-Leistungen. Vielleicht gibt Breel Embolo im Frühling ein Wunder-Comeback. Und vielleicht gelingt es Yakin sogar, noch ein paar Aussenverteidiger zu finden.
All dies ist nicht auszuschliessen. Und wenn die Schweizer Fussballer in den letzten Jahren eines immer wieder bewiesen haben, dann dies: Sie lassen sich von Rückschlägen nicht unterkriegen. Irgendwie hat es diese Generation noch immer geschafft, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Gelingt das auch in Deutschland wieder?
Und weil das so ist, soll auch der Blick über die Vorrunde hinaus erlaubt sein. Bei einem allfälligen Gruppensieg träfe die Nati im Achtelfinal auf den Zweiten der Gruppe C (Dänemark? Serbien?). Als Gruppenzweiter würde der Zweite der Gruppe B warten (Italien? Kroatien? Spanien?). Und, mit Blick auf den Energiehaushalt besonders interessant: In einem Achtelfinal hätte die Nati zuvor mindestens einen Tag länger Pause als der Gegner.
Aber eben: Es ist ein langer Weg, bis zu 99 Gründen für das Schweizer Glück. Das Startspiel gegen Ungarn ist der Wegweiser. Es wird eine grössere Herausforderung, als es manch einem Spieler und Fan lieb wäre. (aargauerzeitung.ch)