Es ist ein Szenario, an das niemand denken will, über das sich die Entscheidungsträger aber Gedanken machen müssen. Was, wenn die Fussballsaison nicht beendet werden kann? Was, wenn es 2020 keinen Schweizer Meister gibt?
Selbst während der beiden Weltkriege schaffte man es in der Schweiz, eine Fussball-Meisterschaft durchzuführen und einen Champion zu küren. Auch der Spanischen Grippe gelang es nicht, die Meisterschaft in die Knie zu zwingen, obwohl es 1918/19 eng wurde. «Mehr als einmal» sei der Sportbetrieb vor dem Zusammenbruch gestanden, hielt der Verband in seinem Jahresbericht fest. Von Mitte Oktober bis Mitte November gab es wegen der Pandemie fast keine Spiele, nur 15 von 55 geplanten konnten bestritten werden. Damals wie heute gab es behördlich verordnete «Ansammlungsverbote», was Fussballspiele verunmöglichte.
Hinzu kamen kriegsbedingte Beeinträchtigungen des Alltags. Weil zu wenig Kohle vorhanden war, fuhr die SBB an Sonntagen nicht – und das war der übliche Fussball-Spieltag. Auch viele Spielfelder waren nicht verfügbar, weil sie als Anbauflächen für Lebensmittel genutzt werden. Schweizer Meister 1919 wurde Etoile La Chaux-de-Fonds, das sich in den Finalspielen gegen Servette Genf und den FC Winterthur durchsetzte.
Liest man von derartigen Hindernissen, die dennoch überwunden werden konnten, so ist der Grund für die einzige Meisterschaft ohne Meister umso erstaunlicher. Dem FC Bern wurde der Titel 1922/23 aberkannt, weil er einen nicht lizenzierten Spieler eingesetzt hatte. Selbst ein Bundesrats-Sohn im Kader konnte daran nichts ändern: Der Vater des Mittelstürmers war niemand geringeres als der «ewige» Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta, der von 1912 bis 1940 in der Landesregierung sass und häufiger Tribünengast war.
Der FC Bern hatte sich Ende Mai im Finalturnier gegen die Young Fellows Zürich und Servette Genf durchgesetzt und durfte sich vier Monate lang als Meister feiern. Erst dann, Mitte September 1923, beschied der Verband, dass die Berner in einem Vorrundenspiel mit dem Goalie Ernst Zorzotti einen nicht qualifizierten Spieler eingesetzt hatten. Der FC Bern verlor deshalb diese Partie forfait. Das hätte Stadtrivale YB zum Gruppensieger und Teilnehmer an der Meisterrunde gemacht.
Wieder zum Gruppensieger gemacht. Denn ursprünglich standen die Young Boys in der Zentralgruppe der Serie A, dem dreigleisigen Vorläufer der eingleisigen Nationalliga A, nach Abschluss aller Spiele bereits auf Platz 1. Doch weil dem FC Bern wegen eines Vergehens des FC Biel ein Forfaitsieg zugesprochen wurde, waren beide Klubs punktgleich. Ein Entscheidungsspiel hätte über die Teilnahme an der Meisterrunde entscheiden müssen, aber auf dieses Derby hatte YB nach dem Hin und Her seltsamerweise keine Lust mehr. Soll doch der von den Young Boys als «FC Waldrand» verspottete Rivale um den Titel spielen.
Die Konkurrenz zwischen Gelb-Schwarz und Rot-Schwarz sei sehr gross gewesen, berichtete YB-Chronist Charles Beuret vor nicht allzu langer Zeit im klubeigenen Magazin: «FC Bern und YB – das war einst eine Rivalität, wie sie zwischen FCZ und GC in Zürich heute noch existiert.» Die Fehde erkläre sich aus der Entstehungsgeschichte der Young Boys. «Sie, die jungen Gymnasiasten und Schüler, die beim FC Bern Fussball spielen wollten, wurden bei den Matches kaum eingesetzt, weshalb sie sich anno 1898 selbständig machten und bald einmal grosse Erfolge feierten. Das passte natürlich den konservativen ‹Bärnern› nicht ins Konzept.»
Der FC Bern zitiert auf seiner Website aus dem Protokoll einer denkwürdigen Sitzung: «Um den unhaltbaren Zuständen, die durch das selbständige und sogar arrogante Auftreten der Schülermannschaft, die einen Klub in unserem Klub gründen wollte, geschaffen worden sind, ein Ende zu machen, wird deren Vertreter der Vorschlag gemacht, entweder sich vollständig abzutrennen oder aber als Aktivspieler in unseren zu treten.» Ohne FC Bern kein BSC YB.
Nachdem im September 1923 feststand, dass der FC Bern unrechtmässig zur Finalteilnahme gekommen war, hätte das Dreier-Turnier eigentlich mit YB als Vertreter der Zentralgruppe wiederholt werden müssen. Aber der Verband verzichtete auf eine Wiederholung und entschied stattdessen an der Delegiertenversammlung in Luzern, dem FC Bern den Titel abzuerkennen und die Saison 1922/23 ohne Meister ad acta zu legen. Die neue Saison war schliesslich bereits im Gang.
«Der Entzug des Meistertitels wirkte auf die Spieler wie eine kalte Dusche», schreibt der FC Bern in seiner Chronik. In der folgenden Saison reichte es nur zu Rang 5 in der Zentralgruppe, und auch in den Jahren danach wollte es mit dem Titelgewinn nie mehr klappen. Heute spielt der vierfache Vizemeister und Cupfinalist von 1926 in der 2. Liga Regional.
Und Ernst Zorzotti, der Goalie, dessen Wechsel die Ursache für den annullierten Meistertitel war? Der ging nach jener Saison zurück zum FC Basel. Für die «Bebbi» lief er zwischen 1918 und 1931 insgesamt 191 Mal auf – manchmal auch als Angreifer. Die Saison 1922/23 beim FC Bern war die einzige, die er für einen anderen Klub auflief.
Gottfried Dienst, weltberühmt als Schiedsrichter des WM-Finals 1966 mit dem «Wembley-Tor», sah Zorzotti spielen, als er noch ein Bube war. Jahrzehnte später schilderte Dienst, wie er als Elfjähriger eine Penaltyszene miterlebte: «Im Verlaufe eines Freundschaftsspiels zwischen dem FC Basel und Rapid Wien täuschte der Elfmeterschütze den Torhüter Zorzotti, indem er über den Ball trat (was damals noch erlaubt war). Bei dieser Aktion flog der Schuh des betreffenden Spielers in Richtung Goal. Zorzotti hechtete in die eine Ecke, worauf der Exekutor den Ball mit blossem Fuss seelenruhig in die andere Ecke schob!»
Weit weg ist das Spiel damals, 1930, von Zeiten wie heute, wo ein Videoschiedsrichter einen Penalty wiederholen lässt, weil sich der Goalie bei dessen Ausführung eine Millisekunde zu früh von der Linie entfernt hat. Vieles im Fussball hat sich seither verändert. Und doch könnte es 97 Jahre nach der Premiere in dieser Saison wieder so weit sein, dass es keinen Schweizer Meister gibt. Nicht wegen Zorzotti, sondern wegen Corona.
TanookiStormtrooper