Ist es nur Nervosität? Oder schon ein kleines bisschen Angst? Die Fragen nach dem richtigen Torhüter schweben wie eine Drohung über dem Schweizer Nationalteam. Wie lange darf Yann Sommer noch im Nati-Tor stehen? Wie lange behält der aufstrebende Gregor Kobel seine Geduld? Es ist die mit Abstand heikelste Aufgabe für Murat Yakin, seit er im Sommer 2021 Nationaltrainer geworden ist.
Yann Sommer ist der Liebling der Schweiz. Er hat massgeblich dazu beigetragen, dass sich die Schweiz an der EM 2021 erstmals in der Neuzeit an einem grossen Turnier für den Viertelfinal qualifiziert hat. Und er hat Italien im Kampf um die WM-Qualifikation fast alleine zur Verzweiflung gebracht. Sommer ist der Poster-Boy der Nati. Niemand im Volk ist so beliebt wie er. 82 Länderspiele hat er bis anhin absolviert. 34 Jahre alt ist er seit Dezember. Und er ist seit Jahren die unbestrittene Nummer 1 in der Nati.
Aber Sommer hat gerade ziemlich schwierige Monate hinter sich. Im Januar wechselte er von Mönchengladbach zu Bayern München. Dort musste er die ganze Wucht erleben, die sich entfaltet, wenn ein Weltverein wie die Bayern in der (Dauer-)Krise steckt. «Die Kritik war sehr unsachlich», sagt Sommer zwar. Und diese Meinung ist ohne Zweifel richtig. Trotzdem hatte Sommer im Bayern-Tor nie auch nur im Ansatz dieselbe Ausstrahlung wie bei Mönchengladbach und in der Nati.
Zur kommenden Saison kehrt die Galionsfigur Manuel Neuer zurück. Es darf als ausgeschlossen gelten, dass Sommer die Nummer 1 bei den Bayern bleibt. Öffentlich gibt sich Sommer entspannt, «ich habe schliesslich noch zwei Jahre Vertrag», sagt er. Klar ist aber auch: Wenn er den Verein nicht wechselt und künftig nur noch Ersatz ist, dann gefährdet er seinen Nati-Stammplatz.
Frage an Nati-Trainer Murat Yakin: Muss Yann Sommer in der nächsten Saison Stammgoalie sein, um bei der EM 2024 im Tor stehen zu können? Yakin ist sich durchaus bewusst, welche Sprengkraft seine Antwort haben könnte. Er sagt zu CH Media: «Das ist grundsätzlich unser Anspruch, den wir an Nationalspieler haben. Sollte einer unserer Torhüter nicht mehr regelmässig spielen, dann werden wir die Situation sicherlich analysieren.» In den bald zwei Jahren als Nationaltrainer hat er nie Zweifel offengelassen, wie wichtig ihm der Spielrhythmus seiner Akteure ist. Im Klartext darf man davon ausgehen, dass Sommer seinen Platz im Nati-Tor verlieren wird, wenn er auf der Bayern-Ersatzbank landet.
Womit wir bei Gregor Kobel sind. Der 25-Jährige hat mit Borussia Dortmund eine überragende Saison hinter sich. Soeben ist er vom Fachmagazin «Kicker» zum besten Torhüter der Bundesliga gewählt worden. Und das, obwohl er in zwei Partien gegen Bayern München und Union Berlin, kolossale Fehler beging. Kobel spielte ansonsten derart überzeugend, dass ihm diese Fehler niemand übel nimmt.
Überdies ist Kobel mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein gesegnet, hält selten mit seiner Meinung zurück. Am Mittwoch tritt er vor die Medien, um noch einmal seine Saison Revue passieren zu lassen. Und weil Kobel so ist, wie er ist, lösen Medienauftritte von ihm rund um den Nati-Tross stets eine gewisse Nervosität aus. Möge er nur ja nicht zu forsch auftreten! Diese und andere Stossgebete schicken die Nati-Kommunikations-Chefs in den Tessiner Himmel.
Um ein bisschen Dampf aus dem Kessel zu nehmen, schickt der Schweizerische Fussballverband zunächst Goalie-Trainer Patrick Foletti vor. In diesen Tagen im Tessin wurde Foletti auch von einem Reporter des Magazins «11 Freunde» befragt. Das «Schweizer Torhüter-Wunder» beschäftigt Fussball-Deutschland seit Jahren. Wenn dann im epischen Bundesliga-Finale mit Sommer und Kobel gleich zwei Schweizer Torhüter gegeneinander kämpfen, ist das natürlich ein guter Zeitpunkt, die Story wieder einmal aufzufrischen.
Dieser Foletti steht nun also auf dem Tessiner Rasen und sagt: «Es ändert sich nichts an der Hierarchie. Yann Sommer Nummer 1. Gregor Kobel Nummer 2.» Als kleine Beruhigungspille darf Kobel am Freitag in Andorra im Tor stehen. Sommer spielt am Montag gegen Rumänien. Der Plan ist, dass fortan auch die Nummer 2 seine Einsätze erhalten wird. Wobei sich Foletti nicht schon festlegen will, wie es dann im September, Oktober oder November aussehen wird.
Ein kleines Detail ist gleichwohl interessant. Gefragt, was er denn Yann Sommer für die Zukunft raten würde, sagt Foletti wörtlich: «Dass er dort ist, wo er sich wohlfühlt und spielen kann.» Um es vorsichtig zu formulieren: Nicht gerade ein Empfehlungsschreiben für Bayern München.
Womit wir wieder zu Gregor Kobel kommen. Die Stossgebete der Kommunikations-Chefs werden erhört. Artig beantwortet Kobel alle kniffligen Fragen. Er gelobt, noch besser werden zu wollen. Noch härter an sich zu arbeiten. Und er sagt auch: «Yann Sommer ist schon so lange dabei, es ist ganz normal, dass er einen gewissen Bonus hat. Das ist auch völlig Okay so.»
Ein letzter Versuch, Kobel ein bisschen zu locken: Verfolgt er in dieser Transferperiode den Weg und die Gerüchte von Yann Sommer besonders genau? Spätestens jetzt dringt doch noch eine Portion «echter» Gregor Kobel durch: «Mir ist es egal, was Yann Sommer macht.»
Es spricht vieles dafür, dass die Frage «Sommer oder Kobel?» an diesem Mittwoch im Tessin nicht zum letzten Mal verhandelt worden ist. (aargauerzeitung.ch)