Dem Mann wird vorgeworfen, eine 14-Jährige vergewaltigt zu haben. Dem Mann wird vorgeworfen, Dokumente gefälscht zu haben. Dem Mann wird Geldwäscherei und illegales Glückspiel vorgeworfen. Der Hells Angel, dem derzeit in Basel der Prozess gemacht wird, hat ziemlich viel auf dem Kerbholz.
Wenn nun publik wird, dass dieser Mann auch Geschäfte mit Murat Yakin gemacht hat, sieht das auf den ersten Blick nicht gut aus für den Schweizer Fussball-Nationaltrainer. Wer Yakin böse will, konstruiert darauf schnell eine Verbindung in die Unterwelt. Ob dafür Beweise vorliegen, interessiert vorerst nicht. Wer Yakin böse will, riecht an ihm auch dann noch den Schwefelgeruch der Halbwelt, wenn der Nati-Trainer Rosen für seine Frau kauft.
Halten wir den Ball aber flach, kommen wir zweifellos zum Schluss: Yakin ist nach jetzigem Kenntnisstand in dieser Sache nicht Täter, sondern Opfer. Er hat dem Mann Uhren gegeben, damit sie dieser weiterverkauft. Und nun fordert er von diesem Mann Uhren und einen höheren Geldbetrag, wohl in sechsstelliger Höhe zurück.
Obwohl Opfer, schlittert Yakin aber einmal mehr in eine Situation, die unangenehm, seiner Reputation nicht förderlich ist. Gibt man am Mittwoch Murat Yakin bei Google ein, erscheint als zweiter Vorschlag «Murat Yakin Hells Angels». Aber könnte er überhaupt anders? Ist es nicht so, dass er aufgrund seines Wesens und seiner Herkunft geradezu gefährdet ist, in solche Fallen hineinzutappen?
Das Quartier in Münchenstein, wo Yakin aufwächst, ist nicht Kuschelrock. Es ist Multikulti. Selbst wenn es den Begriff Helikopter-Eltern schon gäbe. Man findet sie dort nicht. Weil sie alle schuften müssen. Die Kinder hingegen sind mehrheitlich auf sich allein gestellt. Ihr Revier ist draussen, wo sie die meiste Zeit mit Fussball verbringen.
Als er in der zweiten Klasse seinen Berufswunsch angeben muss, kritzelt er «Fusbalschpiler» aufs Papier. Yakin und sein drei Jahre jüngerer Bruder Hakan schaffen es, andere machen Karriere im Beruf. Aber es gibt auch solche, die abdriften. In die Drogen, in die Kriminalität.
Für Berührungsängste oder einen Dünkel existiert in diesem Umfeld kein Nährboden. Es ist das pralle Leben ohne prall gefülltes Portemonnaie. Wenn die Yakins im Sommer nach Istanbul in den Urlaub fahren, tun sie das mit dem Zug und 25 Aldi-Einkaufstaschen.
Zu Hause in Münchenstein ist nichts hermetisch abgeriegelt. Da spielt sich das Leben nicht hinter hohen Hecken im Einfamilienhaus ab, wo der Sohn brav am Klavier sitzt und die Mutter danach mit ihm die Hausaufgaben durchgeht. In Münchenstein kriegt man die Freuden und Leiden der Nachbarn mit. Keine schlechten Voraussetzungen, um später offen und mit einer Prise Gelassenheit durchs Leben zu gehen.
Schon als Teenager rutscht Yakin in die Rolle des Familienoberhaupts. Er durchsucht Stelleninserate für seine Mutter. Nimmt als Schüler an Elternabenden teil. Kümmert sich um alle Behördenangelegenheiten. Es sind diese Erfahrungen, die es Yakin später einfach machen, den Lead zu übernehmen. Es sind aber auch diese Erfahrungen, die ihn zu einem Menschen machen, der sich für viele und vieles verantwortlich fühlt.
Münchenstein prägt. Yakin lernt Verantwortung zu übernehmen. Er lernt, Entscheidungen zu treffen. Vielleicht lernt er dort sogar, wie man Geschäfte macht - denn ein reicher Mann ist er heute nicht nur des Fussballs wegen, sondern weil er mit seinem Geld gut arbeitet. Er lernt, auf Menschen jeder Couleur zuzugehen, ihnen mit Respekt und Anstand zu begegnen. Jeder kriegt eine Chance. Vorurteile kennt er nicht. Selbst einen Hells Angel grenzt er nicht aus.
Münchenstein ist heute weit weg. Villa, grosser Garten, teure Ferien, kostspielige Hobbys, ein Leben als VIP. Aber egal, wie viele Millionen er gescheffelt hat, er ist nie abgehoben, weil er seine Herkunft nicht verleugnen will. Genau diese an sich guten Eigenschaften machen ihn anfällig für Geschichten wie jene mit dem Höllenengel.
Fussball unser. Glanz und Gloria, wo man hinschaut. Nie versiegende Geldquellen, was vor allem auch jene, die keines haben, animiert, möglichst etwas abzuzwacken. Allein in der Schweiz: Was haben wir für lusche Hochstapler gesehen, die viel versprochen und nichts gehalten haben. Die Ukrainer und Türken in Wil, der Tschetschene bei Xamax oder Volker Eckel bei GC. Dieser sah so deutsch aus wie Helmut Kohl, behauptete aber, ein Prinz aus Saudi-Arabien zu sein. In der Traumfabrik Fussball kann das funktionieren.
Wenn wir bedenken, dass nur die wenigsten dieser haarsträubenden Geschichten aus dem Fussball an die Öffentlichkeit dringen, können wir erahnen, welch tiefe Sümpfe da versteckt sind. Hier ein bisschen Geld waschen, dort ein krummes Ding drehen. Es wird getrickst und geschummelt wie auf dem Fussballplatz selbst. Nur, dort ist es Teil des Spiels. Daneben wird es aber bald mal rufschädigend, existenziell oder sogar justiziabel.
Der Höllengel ist einer von vielen, die nicht nur zuschauen, sondern selbst vom Kuchen naschen wollen. Was nicht unerheblich ist, um die Gunst der Kicker zu gewinnen: teure Uhr, fette Karre, Designerklamotten, Selfies aus Fünf-Sterne-Tempeln und Gourmetlokalen. Einige Fussballer denken vielleicht: Cooler Dude, der tickt ähnlich wie wir. Vielleicht sollte man mal mit dem abhängen. Und wenn der Höllenengel dann noch den einen oder anderen Freundschaftsdienst erledigt, irgendetwas vertickt oder besorgt (im Fall von Breel Embolo ein paar gefälschte Covid-Zertifikate), dann sind wir Bros. Brüder.
Murat Yakin, so viel ist klar, hat (zu) viele Freunde. Weil einerseits viele etwas von ihm wollen und er andererseits so furchtbar schlecht Nein sagen kann. Seine Gutmütigkeit wurde nicht erst einmal ausgenutzt. Trotzdem gilt bei ihm: Wer einmal etwas Gutes für mich und meine Familie getan hat, der hat meinen Support auf sicher.
Wie und wo Yakin den Höllenengel kennengelernt hat, ist nicht klar. Aber er kennt ihn wohl besser, als er gegenüber dieser Zeitung zugab. Irgendwann hat Yakin ihm Uhren anvertraut mit dem Auftrag, diese zu verkaufen. Nur, warum macht er Geschäfte mit einem Typen, auf dessen Arm «Hells Angels» tätowiert ist? Weil er nicht ausgrenzt.
Es stellt sich auch die Frage, warum Yakins Anwalt vor Gericht seinen Mandanten in diesem Prozess überhaupt ins Spiel bringt, quasi die Türe zum dunklen Keller aufstösst. Klar ist: Yakin will die Uhren zurück. Und weil die Polizei beim Angeklagten Geld und Uhren beschlagnahmt hat, muss Yakins Anwalt die Ansprüche rechtlich geltend machen.
Warum er das öffentlich tut, ist sein Geheimnis. Ausserdem: Ist auch nur eine beim Hells Angel beschlagnahmte Luxus-Uhr im Besitz Yakins, kann die Verbindung zwischen dem Nati-Trainer und Ertan Y. schnell hergestellt werden, weil die Besitzer solcher Uhren bei der Herstellerfirma registriert werden.
Ob diese Geschichte für Yakin als Nationaltrainer Konsequenzen haben wird, ist heute schwer abzuschätzen. Beim Fussballverband, so hört man, gibt man sich unbeeindruckt. Weder sollen die Führungskräfte noch die Sponsoren an der Integrität des Nationaltrainers zweifeln.
Das sind gute Nachrichten für Yakin, der am Freitag sein Kader für die EM in Deutschland bekannt geben wird. Aber man muss nach heutigem Kenntnisstand auch sagen: Wenn Gutmütigkeit und Gutgläubigkeit als Straftatbestände gelten, dann ist Murat Yakin schuldig. (aargauerzeitung.ch)
Wie kann man da nur auf böse Gedanken kommen.
Nach dem lesen des Artikels werde ich für den Rest meines Lebens tiefstes Mitleid für ihn empfinden.
Leider bete ich nicht, denn da würde er sonst auch ein Plätzli finden.