60. Minute im Allianz Stadion von Turin: Juventus führt gegen Atlético Madrid, als Cristiano Ronaldo mit dem Ball am Fuss lossprinten kann. An der Mittellinie hat er einen stattlichen Vorsprung vor dem letzten Verteidiger der Spanier. «Gleich schlägt es im Atlético-Kasten ein», denkt man sich, doch das 2:0 für Juve fällt nicht. Ronaldo kann nicht durchziehen, er bremst ab, schlägt zwei Haken und hämmert den Ball dann weit übers Tor.
Auch sonst will Ronaldo nichts gelingen. Doch es ist diese eine Szene, die stellvertretend für seine aktuelle Verfassung steht. Der bald 35-jährige Portugiese befindet sich in der vielleicht grössten Krise seiner Karriere, in 15 Saisonspielen im Juve-Trikot hat er für seine Verhältnisse mickrige fünf Tore erzielt.
Beim Serie-A-Spiel vor zweieinhalb Wochen gegen Milan wurde Ronaldo von Trainer Maurizio Sarri wie schon davor in der Königsklasse früh ausgewechselt. Für den fünffachen Weltfussballer eine Majestätsbeleidigung: Fluchend stapfte er an Sarri vorbei in die Kabine, noch vor dem Schlusspfiff rauschte er aus dem Stadion.
Ronaldo sei nicht in Topform, begründete Trainer Sarri seine ungewöhnliche Massnahme – bei Real Madrid wurde CR7 in 329 Spielen nur 37 Mal ausgewechselt. Ausserdem habe er im letzten Monat mit Knieproblemen zu kämpfen gehabt.
Ronaldo antwortete auf seine Weise: In den Länderspielen gegen Litauen und Luxemburg schoss er vier Tore, obwohl er körperlich weit von seiner Bestform entfernt war. Doch eine Pause kam für den überehrgeizigen Ronaldo nicht in Frage. Schliesslich jagt er den Länderspieltor-Rekord von Ali Daei. Mit 99 Treffern liegt er nur noch zehn hinter dem Iraner. «Alle Rekorde müssen mal gebrochen werden und ich werde diesen Rekord brechen», sagt er ohne Umschweife.
Beim Spitzenspiel gegen Atalanta Bergamo am letzten Wochenende fehlte Ronaldo dann aber wieder, das Knie liess keinen Einsatz zu. Juventus kompensierte den Ausfall des Superstars aber problemlos: Gegen Milan, Atalanta und gestern Atlético gewann der italienische Serienmeister dank Toren von Paulo Dybala und Gonzalo Higuain auch ohne Ronaldo. Am Wochenende titelte die «Gazzetta dello Sport» nach den drei argentinischen Juve-Toren gegen Bergamo: «CR wer?»
Vielleicht wollte der Champions-League-Rekordtorschütze in der Königsklasse gegen Atlético auch deshalb unbedingt wieder mittun. Er tat sich jedoch keinen Gefallen damit. Zwischendurch wirkte er wie ein Fremdkörper. Seine auffälligste Szene hatte Ronaldo, der trotz Kurzhaarfrisur mit einem Haarband spielte, als er in der ersten Halbzeit bei einem Flankenversuch in die Eckfahne schlug und danach etwas peinlich berührt davonhumpelte.
War der Portugiese in der letzten Saison für Juve vor allem in der Champions League noch unverzichtbar, scheint er derzeit nicht mehr unantastbar. «Ich bin es gewohnt, 50 oder 60 Spiele zu machen. Aber ich habe aktuell einfach Beschwerden, die es verhindern, bei 100 Prozent zu sein», sagte Ronaldo nach den Länderspielen.
Erstmals in seiner Karriere macht ihm der Körper einen Strich durch die Rechnung. Ronaldo weiss, dass er nicht mehr dribbeln und sprinten kann wie ein 20-Jähriger. Seinen Spielstil hat er dementsprechend angepasst. Geduldig wie ein erfahrenes Krokodil wartet er auf seine Beute und schlägt im richtigen Moment eiskalt zu. Aus dem Spektakel-Stürmer ist ein Torjäger für die grossen Momente geworden.
Diese kommen zu Ronaldos grossem Glück erst noch. Im Frühling, wenn es in der K.o.-Runde der Königsklasse um den Henkelpott geht. Vielleicht schiesst dann auch wieder er die Freistösse und nicht Paulo Dybala. Nach 28 Fehlschüssen in Serie musste CR7 die Ausführung von Standards in Strafraumnähe gestern nämlich erstmals dem Argentinier überlassen. Und prompt war es ein phänomenaler Dybala-Freistoss, der das Spiel entschied.
Nun ist er aus fussballerischer Sicht aber bereits im Spätherbst angelangt. Für das sind seine Leistungen zwar noch immer beachtlich, doch denke ich, wird er sich bald auf eine andere Rolle fokussieren müssen.