Die französischen und italienischen Fussballer schiessen, grätschen und kopfstossen jeweils schon während der Nationalhymnen: Sie markieren kurz vor dem Spiel mit ihrem Schlachtgesang das Feld. Die Schweizer Männer geben bei diesem psychologischen Spiel oft klein bei, haben es mit dem Psalm aber auch nicht leicht, sich musikalisch zu behaupten.
Doch siehe da: Kaum stehen die Schweizer Fussballfrauen an der Europameisterschaft im Mittelpunkt, erweist sich unsere Schweizer Hymne als Glücksfall: Die Schweizerinnen boten ein Bild des singenden Glücks: Halb wars musikalische Fortune, halb lags in der Natur.
Die Fussballerinen machten nicht den Fehler, die «Trittst im Morgenrot daher» laut zu singen, sondern nahmen die Hymne als das, was sie ist: ein Psalm, also ein Lied mit religiösem Text. Da gilt es vorerst, nichts zu forcieren, sondern die Melodie fliessen zu lassen.
An dieser Stelle schrieben CH-Media-Titel im Herbst, dass bloss ein guter Chor diese Anfangsverse ins Erhabene rücken kann, eine Sängerschaft, die fähig ist, ein getragenes Piano zu singen. Das machen die Schweizerinnen im Unterschied zu Shaqiri, Xhaka, & Co. viel besser.
Es war nicht einfach: Noch nicht mal in Reih’ und Glied stehend, begann am Samstagabend auch schon die Kapelle zu spielen. Immerhin kam man so um die schwierigen, hohen Anfangstakte herum.
Da nicht gebrüllt wurde, schafften die stimmlich von Torhüterin Gaëlle Thalmann angeführten Frauen die heikle Stelle mit «Dich, Du Erhabener» erstaunlich gelassen. Auch die anspruchsvolle Wiederholung von «Eure fromme Seele ahnt», die zur Parodie werden kann, wenn das Crescendo im Chaos endet, meistert die Elf mit Anstand.
Interessant war es mit derselben Überlegung, den Italienerinnen zuzuhören. Brüllten die Bonuccis und Buffons den Schlachtgesang «Fratelli d’Italia» jeweils martialisch, singen ihn die Frauen recht brav. Mögen die Fussballgesten da wie dort, bei Frau und Mann, immer ähnlicher werden – im Gesang bleiben wir bei unserem Geschlecht, er kommt aus unserem Innern, aus unserer Seele. Ob fromm wie im Schweizer Psalm oder nicht, ist da egal.
Normalerweise fällt 10- bis 20-jährigen Jungs das Singen schwer. Man erlebt den Stimmbruch und denkt, sobald man den Mund aufmacht, dass ein kratzendes Krächzen ertönt. Also schweigt man besser. Und dann meinen Jungs leider auch, dass es uncool sei, zu singen – die paar Ausnahmegestalten in den Knabenchören natürlich ausgenommen, doch denen wachsen, so sagt man auf dem Pausenplatz, auf dem Rücken auch kleine Flügel.
Für Jungs gilt: grölen ja, singen nein. Der Mann singt, wenn er betrunken ist, die Frau, wenn sie fröhlich oder traurig ist. Bei Spielen im Klassenlager, wo man Strafen erhalten kann, sind 50 Liegestützen für Jungs kein Problem. Ein Lied vor der Klasse zu singen, ist hingegen für die meisten eine Pein.
Mädchen können irgendwo hinstehen und ein Lied singen. Dieses Bild, der unschuldig vor sich hinsingenden Frau, feiert auch die Literatur. Goethe erzählt im Gedicht «Ein Veilchen», wie eine junge Schäferin mit leichtem Schritt und muntrem Sinn über eine Wiese geht und ... singt.
Vielleicht haben wir bei den fröhlich und unbeschwert singenden Fussballerinnen tatsächlich die Schnittmenge gefunden: Frauen, die so sportlich sind, dass sie es in die Schweizer Fussballnationalmannschaft geschafft haben, und sich gleichzeitig so unbeschwert geben, dass es ihnen leicht fällt, ein Lied zu singen. Und sei es gar die paternalistische Schweizer Nationalhymne.
Fühlen sich die Schweizer Fussballerinnen eigentlich angesprochen durch diesen Hymnentext, wo «freie Schweizer» und der «hocherhabene, Herrliche» mitsamt dem «Vaterland» besungen werden? Oder sieht man diesen Gender Gap in der Umkleidekabine der Nati nicht so eng wie im Germanistischen Seminar der Universität?
Ein anderer Umstand ist entscheidender in der Frauen-Nati: Im Schweizer Team, sagt man, gäbe es keinen Balkangraben. So kann im Unterschied zu den Männern die Hymne durchaus ein Legierungsmittel sein, um den rot-weissen Adrenalinschub zu verstärken: Sie singen für die Schweiz. Die Spieler mit Wurzeln auf dem Balken in der Schweizer Männernationalmannschaft fühlen sich beim Vers «Freie Schweizer betet» oder bei «Gott im Vaterland» gehemmt.
Bis zu den Gesangsnummern im Stadion war es ein sehr langer Weg. Einst durften Frauen bei uns öffentlich gar nicht singen. Es war das sogenannte «Paulinische Gebot», das man streng auslegte.
Es geht zurück auf den 1. Korinther-Brief, wo es heisst: «Die Frauen sollen in euren Versammlungen schweigen.» Und so sangen denn in den Kirchen bald in den Theatern nur Männern. Die berüchtigten Kastraten waren eine Folge davon. Knabenchöre in Wien, Leipzig oder England entstanden aus dieser Beschränkung heraus.
Kaum hatten sich allerdings Frauenstimmen im 18. Jahrhundert durchgesetzt, mussten sie zu zirkusreifen Wettkämpfen antreten, um den Titel der Primadonna kämpfen. Ein Aufzwingen von männlichem Verhalten – oder ganz natürlicher Diven- beziehungsweise Kronenkampf?
Wer beobachtet, wie unverkrampft fröhlich die Fussballfrauen dieser Tage die Hymnen singen, tippt eher auf Ersteres. Nachher auf dem Platz wird um den Titel gekämpft.