Der Mann sah nicht gerade aus, als hätte er einen schönen Sieg errungen und ein sportliches Ziel erreicht. Wenige Minuten nachdem sich Italien mit einem 2:0 in Budapest gegen Ungarn für das Finalturnier der Nations League qualifiziert hatte, stand Nationaltrainer Roberto Mancini vor den Kameras des TV-Senders Rai Uno und machte ein Gesicht wie auf einer Beerdigung.
«Es war uns wichtig, das Finalturnier zu erreichen. Und es war uns wichtig, die Gruppe wieder aufzurichten. Aber es bleibt ein bitteres Jahr. Was geschehen ist, bleibt hängen. Jetzt müssen wir die Zeit, bis Ende Dezember überstehen.» Ein Lächeln suchte man in diesem Moment vergeblich auf dem Gesicht des eleganten «Dandy».
Was geschehen ist. Natürlich, es geht um die verpasste Qualifikation für die WM-Endrunde in Katar. Diese erbärmliche Niederlage im März in den Playoffs gegen das scheinbare Leichtgewicht Nordmazedonien hallt auch ein halbes Jahr später nach.
Seither liegt das Nationalteam, im Sommer 2021 immerhin Europameister geworden, in Trümmern. Von Neuanfang war die Rede, von Reformen im Nachwuchsbereich, die der Calcio endlich anschieben müsse. Mit dem Wiederaufbau der «Squadra Azzurra» wurde Mancini betraut, er durfte trotz Misserfolg bleiben.
Doch das Unterfangen schien krachend zu scheitern. Im Juni gab es zwar einen Sieg gegen Ungarn und ein Unentschieden in England, aber auch ein 0:3 gegen Argentinien und ein 2:5 in Deutschland. Es waren pitoyable Auftritte. Nur: Es war eine Mannschaft am Werk, deren Spieler zum Teil nur Insidern ein Begriff waren. Spieler aus der Serie B von Frosinone oder SPAL Ferrara oder wie Wilfried Gnonto aus der Schweiz vom FC Zürich kamen da zum Einsatz.
Nun wurde offenbar, dass diese Juni-Spiele für Mancini ein Experimentierfeld waren und nicht schon der erste Schritt eines Wiederaufbaus. Denn jetzt im September zeigten die «Azzurri» personell ein ganz anderes Gesicht. Mit dem Ziel vor Augen, mit zwei Erfolgen doch noch den Gruppensieg zu erringen, setzte Mancini wieder auf die bewährten Kräfte.
Zwar fehlten der aus dem Nationalteam zurückgetretene Giorgio Chiellini sowie die verletzten Marco Verratti, Federico Chiesa und Ciro Immobile, doch ansonsten schlossen die Europameister die Reihen.
Mancini rotierte nicht einmal. Beim 2:0 in Budapest standen am Anfang zehn Spieler auf dem Platz, die schon beim 1:0 drei Tage zuvor in Mailand gegen England begonnen hatten. Einzig der Ex-FCZ-Stürmer Gnonto kam für West-Ham-Angreifer Gianluca Scamacca ins Team.
Was in beiden Partien gleich blieb: Mancini vertraute für die Startformation neun Spielern, welche vor knapp 15 Monaten zum EM-Kader gehört hatten, allen voran die Achse mit Torhüter Gianluigi Donnarumma, Captain Leonardo Bonucci sowie den Mittelfeldspielern Nicolo Barella und Jorginho.
Zu diesen neun Europameistern gehört zwar auch Giacomo Raspadori. Doch zur Entdeckung und zum Leistungsträger wurde der Stürmer erst jetzt. An der EM kam der 22-Jährige aus der Emilia-Romagna bloss 15 Minuten zum Einsatz. Jetzt etablierte er sich mit seinen Auftritten als fixe Grösse. Gegen England schoss Raspadori mit einem raffinierten Schlenzer den Siegtreffer, in Ungarn opportunistisch und nach einem Abwehrfehler das wegweisende Führungstor.
Raspadori wechselte im Spätsommer kurz vor Transferschluss von Sassuolo zu Napoli. Hier kann er, um Titel und in der Champions League spielen und soll zum Top-Player werden. Er ist das neue Gesicht der «Squadra Azzurra», der personifizierte Neuanfang nach der WM-Blamage. Zumindest für diejenigen, welche einen solchen partout fordern von Mancini.
Für alle anderen haben die Siege gegen England und Ungarn auch viel mit zwei EM-Helden zu tun, welche in den letzten Monaten in ihren Klubs grosse Probleme hatten: PSG-Keeper Donnarumma und Juventus-Abwehrchef Bonucci. Sie waren über beide Spiele gesehen die besten Italiener. Donnarumma etwa wehrte gegen Ungarn mehrmals mirakulös ab, und Bonucci dirigierte eine Abwehr, die erstmals seit über einem Jahr zwei Mal in Folge ohne Gegentor blieb.
Die Nations League mag kein allzu wichtiger Wettbewerb sein. Doch der Vorstoss in die Top 4 tut dem Selbstwertgefühl der Italiener gut. Wenn die Besten spielen, gehört die «Squadra Azzurra» eigentlich noch immer zu den Besten. «Wir arbeiten an einem neuen Italien. Aber im Moment ist das meine Mannschaft», sagte Mancini lapidar.
Es ist fast die alte Mannschaft. Mit ihr wird Mancini im nächsten Jahr in die EM-Qualifikation und ins Nations-League-Finalturnier steigen. Und wenn der Dezember und die WM vorbei sind, kann er sich darauf vielleicht sogar ein bisschen freuen. (aargauerzeitung.ch)