Gut zwei Monate ist es her, seit die Schweizer Nationalmannschaft den WM-Achtelfinal gegen Portugal 1:6 verloren hat. Nun präsentiert Nati-Boss Pierluigi Tami seine WM-Analyse. Er sitzt im Haus des Schweizer Fussballs in Bern. Gut 100 Minuten dauern seine Ausführungen. Zunächst über das, was in Katar passiert ist. Danach über das, was die Nati 2023 erwartet.
«Ja, wir haben eine Ohrfeige kassiert», sagt Nati-Boss Pierluigi Tami, «aber es wäre nicht korrekt, das Jahr 2022 auf dieses 1:6 zu reduzieren.» Zwar hat die Schweiz das offizielle Ziel, den WM-Viertelfinal, nicht erreicht. Aber das Weiterkommen in einer Gruppe mit Brasilien, Serbien und Kamerun ist aller Ehren wert. «Es ist nie so, dass man nach einem Sieg alles richtig gemacht hat und nach einer Niederlage alles falsch», sagt Tami. «Erinnern wir uns an den EM-Achtelfinal 2021 gegen Frankreich. Kurz vor dem Penaltyschiessen treffen die Franzosen die Latte - die Geschichte hätte auch anders ausgehen können.»
Als unmittelbare Folge der WM wird der Verband einen neuen Konditionstrainer und einen Ernährungsberater verpflichten. «In den Vereinen ist das längst Standard, nun möchten wir den Spielern auch in der Nati eine gewisse Kontinuität ermöglichen», sagt Tami. Der neue Konditionstrainer wird den Nationalteams (inklusive Junioren) neu zu 100 Prozent zur Verfügung stehen. Ist man damit nicht etwas gar spät? «Stimmt, wird sind zehn Jahre zu spät», sagt Tami.
Eine Erkenntnis von Tami ist auch: Um vier Spiele innert sechzehn Tagen durchzustehen, ist die Schweizer Mannschaft derzeit noch nicht bereit. «Einzig Xhaka, Akanji, Sow und Freuler sind sich solch einen hohen Rhythmus gewohnt», sagt Tami. Zur Erinnerung: Im Achtelfinal gegen Portugal liefen die Schweizer insgesamt zehn Kilometer weniger als die Portugiesen.
Das 1:6 gegen Portugal hatte durchaus ein paar Umstände, die für Gesprächsstoff sorgten. Trainer Murat Yakin stellte auf eine Dreierkette um, weil mit Silvan Widmer ausgerechnet der einzige Rechtsverteidiger ausfiel. Dazu waren einige Aussagen von Spielern zumindest rätselhaft, vielleicht auch widersprüchlich. So, dass man sich fragte: Ist etwas kaputt gegangen zwischen Trainer und Spielern? Tami sagt: «Das passiert manchmal im Moment der Enttäuschung. Wir alle waren sehr traurig, niemand sah dieses 1:6 kommen. Aber ich bin sicher, dass die Mannschaft im 2023 mit Energie und mit vollem Fokus in eine neue Geschichte geht.» Seinen Optimismus schöpft Tami auch aus Gesprächen mit mehreren Spielern.
Der Vertrag des Nationaltrainers läuft bis und mit EM 2024. Tami sagt: «Wir haben totales Vertrauen in Murat Yakin.» Vor allem in der Westschweiz gab es nach der WM einige Stimmen, die Yakins Entlassung forderten. Das ist absurd. Und dem Umstand geschuldet, dass nur zwei Romands an der WM dabei waren. Sollte die Schweiz die EM wider Erwarten verpassen, könnte die Zusammenarbeit mit Yakin beendet werden. Viel wahrscheinlicher hingegen ist, dass sich die Schweiz souverän für die EM qualifiziert und Yakin im kommenden Sommer bereits einen neuen Vertrag bis Ende 2025 erhält.
An der WM stand Granit Xhaka wie so häufig stets im Mittelpunkt. Seine Jubel-Geste mit dem Trikot von Ardon Jashari hat für viel Wirbel gesorgt. Clever war die Aktion nicht. Folgen hat sie aber keine. «Es gibt keine Captain-Diskussion, weder für mich noch für Yakin», sagt Tami. Und dann fügt er an: «Die ständige Debatte um Identifikation beginnt mich langsam zu stören. Xhaka ist der Leader dieser Mannschaft. Er erfüllt seine Rolle zu 100 Prozent.» Tami und der Verband haben auch mit Xhaka die WM analysiert, also auch die Jashari-Aktion besprochen. «Aber das Thema ist erledigt.»
Ja. Die Gegner heissen Weissrussland, Israel, Rumänien, Kosovo und Andorra. Der Gruppenerste und der Gruppenzweite qualifizieren sich für die EM 2024 in Deutschland (14. Juni bis 14. Juli). Eine Nicht-Qualifikation würde ein heftiges Beben auslösen. Tami sagt: «Es stört mich, wenn die Gruppe als e‹infach› taxiert wird. Wir sind gut beraten, den Gegnern Respekt zu zollen und mit Bescheidenheit in diese Spiele zu gehen. Sonst kriegen wir eine zweite Ohrfeige.»
Zu Beginn der EM-Qualifikation spielt die Schweiz am 25. März in Novi Sad, Serbien, gegen Weissrussland. Dies, weil die Weissrussen wegen des Kriegs ohne Publikum und auf neutralem Terrain spielen müssen. Der Fussballverband akzeptiert die Entscheidung der UEFA. Und doch bleibt die Frage, ob die Sicherheit der Spieler gewährleistet ist. Sind die Befürchtungen, die Schweiz werde einen ähnlichen Empfang erleben wie 2005 in der WM-Barrage gegen die Türkei übertrieben? «Ich hoffe es», sagt Tami. Und weiter: «Wir haben bereits einige Unterstützung vom serbischen Fussballverband bekommen für unsere Organisation.» Um Bemühungen nach Normalität zu untermauern, strebt der SFV auch ein offizielles Treffen mit Serbiens Verband an.
Doch eigentlich schon, am Ende wäre dies ja der Höhepunkt gewesen wo das ganze Jahr drauf hingearbeitet wurde.