Auf dem Platz schien er immer alles im Griff zu haben. Selbst in der physischen Premier League und trotz seiner verhältnismässig geringen Grösse von nur 1,71 Meter. N'Golo Kanté war jahrelang einer der besten defensiven Mittelfeldspieler der Welt. Das Idealbild des destruktiven Sechsers, der das Zentrum so stark kontrolliert, dass dem Gegner oftmals nur das Ausweichen auf die Flügel blieb. Doch neben dem Feld scheint Kanté die Kontrolle verloren zu haben – denn dort verfolgen ihn seit Jahren Probleme, die er nicht in den Griff zu bekommen scheint.
Aber erst einmal zu den Anfängen von N'Golo Kanté. Der Sohn malischer Einwanderer kam 1991 in der Pariser Banlieue Rueil-Malmaison zur Welt und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Im Alter von elf Jahren verlor er seinen Vater, zu dem Zeitpunkt hatte er bereits mit dem Fussballspielen begonnen. Schnell war klar, dass er über besonderes Talent verfügt, wie einer seiner damaligen Freunde bei «L'Équipe» erzählt. Und obwohl ein begabter Fussballer in der Banlieue auch zwielichtige Gestalten anlocke, sei Kanté zunächst nicht in Probleme verstrickt gewesen. Erst mit der Zeit «sind Leute in sein Leben getreten, die ihn wie Geier umkreisen», sagt Kantés Jugendfreund der französischen Zeitschrift.
Trotz des früh erkennbaren Talents war Kanté ein Spätstarter. Vom Jugendverein Suresnes wechselte er in die Hafenstadt Boulogne-sur-Mer, wo er dann mit erst 21 Jahren in Frankreichs dritter Liga debütierte, dann aber schnell Eindruck schindete. Nach einer Saison wechselte er zu Zweitligist Caen, schaffte mit dem Team den Aufstieg und überzeugte dann auch in der Ligue 1 als Stammspieler. Im Sommer 2015 erfolgte der Wechsel zu Leicester in die Premier League. Es ist die Zeit, in der sich immer mehr Agenten für Kanté zu interessieren beginnen – «nicht alle mit guten Absichten», wie ein alter Bekannter erzählt.
Für den weiteren Verlauf der Geschichte sind vor allem zwei Namen relevant: Abdelkarim Douis und Rachid Saadna. Douis war ein wegen Drogenbesitzes, Urkundenfälschung und Betrugs verurteilter Verbrecher. Auch Saadna, ein entfernter Cousin Douis', kennt Kanté aus Rueil-Malmaison und geriet mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt. Rund um den Transfer zu Leicester tauchten die beiden Namen noch nicht auf – keiner von ihnen war ein bei der englischen Liga registrierter Spielerberater. Hinter den Kulissen sei jedoch bereits klar gewesen, dass Douis und Saadna die Vertreter des Fussballers seien.
Viele Freunde Kantés machten sich Sorgen, hinterfragten die Motive der neuen Berater und fragten sich auch, weshalb er diese angeheuert habe. Er habe die Entscheidung gegen seinen Willen getroffen, erzählt ein Vertrauter Kantés. «Schon zu diesem Zeitpunkt war es kein gesundes und wohlwollendes Umfeld», erzählt ein anderer. Doch so richtig eskalierte es erst ein Jahr später.
Denn nachdem Kanté mit Leicester völlig überraschend den Meistertitel gefeiert hatte und bei der EM 2016 mit Frankreich in den Final eingezogen war, verliess er die «Foxes» schon wieder in Richtung London. Kanté verfügte über eine Ausstiegsklausel in der Höhe von 35,8 Millionen Euro – ein Schnäppchen für einen Spieler mit seinen Qualitäten. Und so hatten die Vermittler beste Voraussetzungen, sich eine üppige Provision auszuhandeln, was sie dann auch taten. Zehn Millionen Euro liess sich Chelsea den damals 25-Jährigen zusätzlich kosten, knapp die Hälfte ging an Douis.
Es ist dies der Knackpunkt in der Beziehung zwischen Douis und seinem Cousin Saadna. Denn Zweiterer fühlte sich hintergangen – und wollte das nicht auf sich sitzen lassen. In einer 2019 von «Mediapart» veröffentlichten Audioaufnahme ist zu hören, wie Saadna von einem Treffen mit Kanté erzählt, als der Chelsea-Star seine Heimat besuchte. Gemeinsam mit seinem Bruder Houari habe er diesen unter Druck gesetzt.
Dabei soll Kanté gar mit einer Waffe, die ihm ans Knie gehalten wurde, bedroht worden sein. «Entweder du verlässt deinen Agenten oder wir beseitigen ihn», habe Rachid Saadnas Bruder zu Kanté gesagt. Dieser verneinte die Geschichte damals wie heute gegenüber den französischen Medien zwar, doch wie «L'Équipe» und «France Football» aus Gesprächen mit Leuten in Rueil-Malmaison herausgefunden haben, seien diese Geschehnisse aus dem Jahr 2017 kein Geheimnis: «Jeder weiss von dieser Geschichte.»
Dennoch habe sich das Umfeld des Chelsea-Profis nicht wirklich verändert. 2018 nach dem Gewinn des Weltmeistertitels mit der Nationalmannschaft verlängerte Kanté seinen Vertrag bei Chelsea. Dieses Mal kassierte auch Saadna mit – der Konflikt zwischen ihm und Douis schien also aus der Welt geschafft. Doch für Kanté ist wenig so unbeschwert wie zuvor. Als einziger der französischen Weltmeister präsentierte er den WM-Pokal nicht in seinem Heimatort. Wenn er nach Rueil-Malmaison zurückkehre, benachrichtige er kaum noch jemanden. Er wolle so wenig Aufmerksamkeit auf sich und die Probleme für ihn und seine Angehörigen ziehen wie möglich, glaubt ein Einheimischer.
Voraussichtlich werden sich weder Kanté noch seine Familie zu den Vorkommnissen äussern. Nicht wenige von den französischen Medien befragte Personen aus Kantés früherem Umfeld vermuten, dass auch seine körperliche Gesundheit unter den Geschehnissen gelitten habe. Der Dauerbrenner, der zuvor kaum einmal ein Spiel verpasst hatte, wurde vor allem ab 2019 – als die Affäre um die Drohung mit der Pistole bekannt wurde – immer häufiger von Verletzungen und Beschwerden geplagt. In dieser Saison stand er erst zweimal auf dem Feld. Die WM in Katar verpasste er. Auch am Freitagabend, wenn Frankreich gegen die Niederlande in die EM-Qualifikation startet, fehlt Kanté im Kader der «Bleus».
«Ich weiss nicht, weshalb er die Personen nicht loswerden kann», wird ein enger Vertrauter zitiert. Manche glauben, es liege an der schüchternen, netten und zu zaghaften Art, dass sich Kanté nicht wehren und aus den Klauen der Banlieues befreien kann. Auf eins können sich aber alle einigen: «Es ist traurig.»