Vor der Presse nahm Lucien Favre nach dem Debakel gegen Marseille kein Blatt vor den Mund. Der Waadtländer Nice-Trainer beklagte die mangelnde Durchschlagskraft seiner Spieler und den fehlenden Mut, höher zu spielen. Zu keinem Zeitpunkt konnten die 31'418 Zuschauer in Nizza daran glauben, dass ihre Mannschaft gegen den verhassten Feind zurück ins Spiel finden könnte.
Trotz dieser Niederlage zeigten die Heimfans eine gewisse Nachsicht. Die Erinnerung an den grossartigen Kampf drei Tage zuvor gegen Maccabi Tel-Aviv, als man sich mit zehn gegen elf durch ein Tor aus dem Nichts für die Gruppenphase der Conference League qualifizierte, und die Wertschätzung für einen Trainer, der ihnen vor sechs Jahren eine Traumsaison beschert hatte, erklären zweifellos die verhältnismässig friedliche Haltung der Ultras. Aber ihre Geduld hat Grenzen. Die Schonfrist, in deren Genuss Lucien Favre noch kommt, ist bald vorbei.
Favre ist sich dessen sehr wohl bewusst. Als 18. der Ligue 1 – mit zwei Unentschieden und zwei Niederlagen – muss Nice reagieren. Am Mittwoch geht es nach Lille, bevor es am Sonntag gegen Monaco zu einem weiteren Derby kommt. «Es liegt an mir, den Schlüssel zu finden», sagt Favre. Nach der Pleite am Sonntag ist er bereit, die Spieler – unabhängig von ihrem Status – und auch das Spielsystem zu ändern, damit seine Mannschaft nicht so überfordert ist wie gegen Marseille.
Auch hofft er, dass die Verantwortlichen ihre Bemühungen beschleunigen, um bis zum Ende der Transferperiode noch einige Verstärkungen zu verpflichten; am liebsten je einen Innen- und Aussenverteidiger und je einen Flügel- und Mittelstürmer. Fraglich bleibt allerdings, ob die Besitzer dazu Lust haben. Denn Ineos ist nach dem im Frühling gescheiterten Versuch, Chelsea zu übernehmen, nun in die Verhandlungen für eine Übernahme von Manchester United involviert.
Auch die Leistungen von Goalie Kasper Schmeichel lassen zu wünschen übrig. Der Däne strahlt seit seiner Ankunft in Nizza keine Sicherheit aus. An den drei Gegentoren gegen Marseille war er nicht unschuldig. Seine Leistung stand damit klar im Gegensatz zu derjenigen am Vortag von Yann Sommer, der eigentlich der Torhüter Nummer 1 bei der OGC Nice hätte werden sollen. «Ich habe mich wirklich für den Transfer von Yann Sommer zu uns eingesetzt. Leider hat er sich entschieden, in Mönchengladbach zu bleiben», sagt Favre. Der Basler Goalie zeigte beim Unentschieden der Borussia gegen die Bayern am Samstag nicht weniger als 19 Paraden.
Mit der Verpflichtung von Aaron Ramsey und Nicolas Pépé ist Ineos ein gewisses Risiko eingegangen. Der Waliser und der Ivorer kamen zu Nice, nachdem sie in den letzten drei Saisons fast ausschliesslich auf der Bank gesessen hatten. Werden sie in der Lage sein, ihr früheres Niveau zu erreichen? Favre erhält Recht, wenn er sagt: «Ein Verein wie Nice hat trotz der Mittel, die er einsetzen kann, Schwierigkeiten, grosse Spieler zu verpflichten. Mit 24 oder 25 Jahren will man in der Champions League spielen, wenn man stark ist.»
Nach Nizza kamen deshalb hauptsächlich jüngere Spieler wie Alexis Beka Beka (21 Jahre), Mattia Viti (20) und Rares Ilie (19). Auch deshalb brauche die Mannschaft «Zeit, um zu wachsen», sagt der Waadtländer Trainer. Nichtsdestotrotz verlangt die unmittelbare Zukunft eine Reaktion noch in dieser Woche, damit das Projekt OGC Nice glaubwürdig bleibt. (pre/sda)