Und wieder setzt Erling Haaland zum Sprint an, rennt auf die gegnerische Abwehrreihe zu und fordert den Ball – obwohl er eigentlich von zwei Verteidigern gedeckt wird. Der Pass kommt, Haaland kontrolliert den Ball, lässt im selben Moment einen der Gegenspieler an sich abprallen. Dann legt er sich den Ball auf den linken Fuss und schiesst unhaltbar zum 4:2 ein. Der Torhüter von Crystal Palace bleibt einfach stehen, hechtet nicht einmal.
Es war Haalands dritter Treffer des Spiels. Innert 19 Minuten hat er das Spiel von 1:2 auf 4:2 gestellt. Deshalb hat Manchester City den Norweger verpflichtet. Wegen seines Torriechers. Wegen seiner Unermüdlichkeit. Und weil er nur sehr wenige Ballkontakte braucht, um erfolgreich zu sein. 18 Mal berührte er den Ball gegen Crystal Palace, das ergibt sechs Ballkontakte pro Tor. Haaland ist ein Phänomen.
Dabei betrachteten einige den Wechsel in die Premier League skeptisch. Der 22-Jährige werde Probleme haben mit der härteren Spielweise in England. Dass Haaland die Torquote aus Dortmund (86 Tore in 89 Spielen) halten kann? Keine Chance. Zu viele Stürmer waren bereits an der Schwelle von einer anderen europäischen Liga ins englische Oberhaus gescheitert. Wie zuletzt Romelu Lukaku oder auch Timo Werner bei Chelsea. Fans haben dafür sogar einen Begriff erfunden: «Bundesliga-Steuer».
Doch auch einige Interessenten fragten sich, ob der Spielstil Haalands in der Premier League funktionieren würde. ESPN berichtete nach Bekanntwerden des Transfers zu Manchester City, dass Chelseas Scouts diesbezüglich Bedenken äusserten. Er würde nicht so ganz in die Liga passen, weil er weniger Platz haben werde als in der Bundesliga.
Die ersten Spiele im Trikot der «Skyblues» zeigten aber: Haaland braucht diesen Platz gar nicht unbedingt. Zudem kann er aufgrund seiner Physis und Schnelligkeit auch selbst Räume kreieren. Sechs Tore erzielte er in den ersten vier Partien. Damit führt er die Torschützenliste in England an. Fühlten sich viele Skeptiker nach dem torlosen Auftritt im Supercup gegen Liverpool noch bestätigt, zittert nun die ganze Liga vor der neuen Nummer 9 von Manchester City.
Haaland wusste bereits vor der Saison, dass er auch in England bestehen kann: «Es wird etwas physischer und schneller. Aber mein Körper ist bereit.» Ausserdem freue er sich auf diese Härte, wie er im Gespräch mit Alan Shearer bei «The Athletic» erzählte. «Es ist gut, hier und da etwas Schmerz zu spüren.» Es ist ein Satz, der den Rekordtorschützen der Premier League in Staunen versetzt. Als ehemaliger Weltklassestürmer versteht Shearer, was Haaland meinte: «Um erfolgreich zu sein, muss man manchmal leiden.»
Ausserdem meinte Shearer: «Ich würde nicht gerne gegen das spielen.» Mit «das» meint er die 88 Kilogramm, die sich bei Haaland auf 1,94 Meter verteilen. Dass Haaland mit seiner Physis auch in der wohl besten Liga der Welt bestehen kann, merkte Palace-Verteidiger Joel Ward beim oben erwähnten Tor.
Doch für Haaland ist das erst der Anfang. Für ihn geht es immer darum, noch mehr Tore zu schiessen: «Wenn ich treffe, habe ich jedes Mal dieses Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben, aber es gibt nichts Besseres.» Shearer beschreibt es als «eine magische Droge, die nicht nachlässt». Man wolle immer mehr. So ist es auch bei Haaland: Sobald der Ball nach einem seiner Tore wieder rollt, jagt er bereits nach dem nächsten Rausch.
Mit seinen Toren liess er auch jene Stimmen verstummen, die behaupteten, dass ein klassischer Mittelstürmer keinen Platz im System von Pep Guardiola hat. Dabei hatte der Spanier bereits früher erfolgreiche Neuner im Team. Robert Lewandowski bei den Bayern zum Beispiel, oder Samuel Eto'o bei Barcelona. Nach vier Spielen zeigt sich: Bei City lag es in den letzten Jahren wohl eher an dem mangelnden Personal für die Position als an Guardiolas System. Der einzig wirklich treffsichere Stürmer war Sergio Agüero, der mit einer Grösse von 1,73 Metern weit vom Profil eines Haalands entfernt ist.
Doch dass der 21-fache Nationalspieler bei den «Citizens» so gut passt, liegt auch an seiner Mentalität. «Es gibt immer etwas, dass man verbessern kann. Ich kann in allem noch besser werden», sagt Haaland und führt aus: «Ich muss meinen linken Fuss verbessern, meinen rechten Fuss auch und das Kopfballspiel ebenfalls.» So könne er vielleicht in zehn Jahren sein volles Potenzial entfachen. Eine beängstigende Vorstellung für alle Verteidiger dieser Welt.
Für Shearer kommt es nicht überraschend, dass Haaland auch unter Guardiola so viele Tore erzielt. Als er die vielen potenziellen Chancen sah und wie oft die «Citizens» den Ball in die Gefahrenzone spielten, dachte er: «Haaland kann für dieses Team 40 Tore pro Saison schiessen.» Wenn der Torschützenkönig der Champions-League-Saison 2020/21 so weitermacht, würde er diese Marke bereits nach 27 Spielen knacken. So viel zur «Bundesliga-Steuer».
Er hat in 278 Premier-League Spielen 121 Mal getroffen. Diese Quote muss Haaland erstmal erreichen, was anhand der körperlichen Vorraussetzung aber machbar ist. Die Frage ist eher wie lange der Geduldsfaden ist, wenn mal Torflaute herrscht.
Mal schauen wie das im Saisonverlauf sich gestalltet.
Aber Haaland hat bereits bewiesen das er den nächsten Schritt absolut gehen kann.