Beginnen wir mal mit einer kleinen Denkübung: Zählt in eurem Kopf doch mal die italienischen Top-Klubs auf. Da wären Rekordmeister Juventus, die Mailänder Vereine Inter und AC, die AS Roma und Lazio sowie der amtierende Meister Napoli. Und dann gehören vielleicht noch Atalanta Bergamo und die AC Fiorentina dazu. Aber Bologna? Die würde wohl kaum jemand in der Spitzengruppe der Serie A erwarten.
Zwar wurde der FC Bologna bereits siebenmal Meister und zweimal Cupsieger, aber der letzte dieser Titel stammt aus der Saison 1973/74. Trotzdem ist Bologna in Italien vor dem Spiel in Empoli vom Freitagabend (20.45 Uhr) Vierter und steht damit auf einem Champions-League-Platz.
Mittendrin drei Schweizer Nationalspieler. Michel Aebischer, der bereits im Januar 2022 von YB in die Emilia Romagna gewechselt war und in der laufenden Saison als einziger Spieler im Kader in 31 der 32 bisherigen Partien auf dem Platz stand. Remo Freuler, der von Nottingham an die Italiener ausgeliehen ist und so viele Pässe anbringt wie kaum ein Mitspieler. Und Flügelflitzer Dan Ndoye, der vor der Saison aus Basel kam und zwischen Stammplatz und Lieblingsjoker des Trainers pendelt.
Bei den Fans ist das Trio beliebt, wie Aebischer dem SRF sagt: «Sie wissen, dass wir Schweizer immer arbeiten und 100 Prozent geben.» Und auch untereinander verstehen sich die Nati-Spieler gut. Der 23-jährige Ndoye bezeichnet den acht Jahre älteren Freuler als «grossen Bruder, der mir Ratschläge gibt». Der 31-Jährige verbringe auch viel Zeit mit Aebischer, der in Bologna relativ nahe von ihm wohne. Doch auch sonst sind die Schweizer im Team gut integriert.
Aebischer fungiert aufgrund seiner guten Sprachkenntnisse auch als Übersetzer für die Spieler, die noch nicht so gut Italienisch verstehen. Ausserdem durfte er Bologna in acht Partien der laufenden Saison als Captain aufs Spielfeld führen. «Das ist eine tolle Anerkennung und macht mich stolz», sagt der 27-Jährige den Freiburger Nachrichten. Zumal Trainer Thiago Motta nicht auf einen festen Kapitän setzt, sondern die Binde zwischen einigen Spielern rotieren lässt. Es sei eine «Art Belohnungssystem, ein zusätzliches Zückerli als Anerkennung für gute Leistung», erklärt Aebischer.
Motta scheint mit seinen Schweizern ohnehin sehr zufrieden zu sein. Ndoye lobt er für seine Stärke in 1-gegen-1-Situationen. Freuler dafür, dass er «die jungen Spieler anführt und ihnen zeigt, was sie zu tun haben, damit wir unseren eingeschlagenen Weg weitergehen können». Und Aebischer sei ein sehr intelligenter Junge, den er vor allem für seine Vielseitigkeit schätzt: «Wenn einer verschiedene Rollen erfüllen kann, spricht das für sein Spielverständnis.»
Ein Teil des Erfolgsrezepts von Motta ist, dass er stark auf den Teamgeist setzt. «Auf dem Feld hängen sich nicht neun, nicht zehn, sondern immer alle elf Spieler voll rein», findet Aebischer. Und Freuler bringt es folgendermassen auf den Punkt: «Jeder geht für jeden.» Doch der ehemalige Mittelfeldspieler, der unter anderem für Barcelona, Inter Mailand und PSG auflief, ist auch ein ausgewiesener Taktikfuchs.
Motta lässt sein Team nicht in einem 4-3-3 oder einem 4-4-2 auflaufen, er setzt auf ein 2-7-2. Was im ersten Moment völlig verrückt klingt – wer spielt schon mit zwei Verteidigern und sieben Mittelfeldspielern –, ist eigentlich leicht erklärt. Denn der in Brasilien geborene italienische Ex-Nationalspieler sieht das Feld nicht wie üblich horizontal, sondern vertikal – so wie er es während seiner Spielerkarriere als Sechser stets wahrgenommen hat. Für ihn ist das Spielfeld also längs in drei Drittel geteilt, wovon das linke sowie das rechte Drittel von zwei Spielern besetzt sind, während sich in der Mitte – den Goalie mitgerechnet – sieben Akteure bewegen.
Der Schlussmann besitzt in seinem System eine besonders wichtige Funktion, da er im Ballbesitz weit herausrücken soll und als erster Angreifer gilt, während der Stürmer als erster Verteidiger fungiert. Dies gibt Mottas Team im Spielaufbau im Vergleich zum Gegner einen zusätzlichen Spieler, wodurch immer mindestens eine Anspielstation für den ballführenden Spieler frei sein soll. Das ist für die auf Ballbesitz ausgelegte Idee entscheidend. Denn obwohl Motta viel Wert auf eine stabile Defensive legt, will er das Spiel kontrollieren. Und das klappt: Nur Napoli hat in der Serie A mehr Ballbesitz als Bologna. Gleichzeitig stellt Bologna die drittbeste Verteidigung.
So lässt Motta den Klub von der ersten Champions-League-Teilnahme seit 1964/65 träumen. Dabei waren viele Fans skeptisch, als der nun 41-Jährige Bologna im September 2022 übernahm. Bei seiner ersten Trainerstation fiel er dem Schleudersitz in Genua, der an jenen in Sion erinnert, bereits nach neun Partien zum Opfer. Ausserdem war sein Vorgänger Sinisa Mihajlovic in Bologna sehr beliebt – nur konnte er aufgrund einer Krebserkrankung nicht an der Seitenlinie stehen und Bologna startete mit nur sechs Punkten aus den ersten sechs Partien. Der Serbe starb wenige Monate später, als der Erfolgslauf seines Ex-Teams unter Motta gerade so richtig losgegangen war.
In der letzten Saison gelang mit Rang 9 die beste Platzierung seit 2012, jetzt wollen die Fans in der knapp 400'000-Einwohner-Stadt aber mehr. Immer häufiger hört Aebischer von Anhängerinnen und Anhängern in der Stadt: «Bringt uns nach Europa!»
Neben dem Schweizer Trio sollen das aber vor allem auch Stürmer Joshua Zirkzee und der spiel- sowie dribblingstarke Lewis Ferguson richten. Der Niederländer Zirkzee, der bei Bayern München einst als hoffnungsvolles Talent galt, sich aber nicht durchsetzen konnte, wird in Bologna für seine herausragende Ballkontrolle sowie die Torgefährlichkeit geschätzt. Mit elf Treffern ist er in der laufenden Saison der beste Torschütze bei Bologna. Häufig wird er dabei vom Schotten Ferguson bedient. Der offensive Mittelfeldspieler ist die kreative Schaltzentrale bei Bologna, während ihm Freuler und auch Ex-Basler Riccardo Calafiori mit ihren vielen Balleroberungen den Rücken freihalten.
Dass Bologna so viele talentierte Spieler im Kader hat, ist vor allem dem technischen Leiter Giovanni Sartori zu verdanken. Der 66-Jährige stellte schon bei Chievo Verona und Atalanta Bergamo – unter anderem verpflichtete er dort Remo Freuler – erfolgreiche Teams zusammen. Nun war er nicht nur bei Freulers Wechsel nach Bologna, sondern auch bei Ndoye, den er angeblich rund 50 Mal anrief, ein entscheidender Faktor.
Er ist neben Motta ein weiterer Grund, weshalb Freuler und Co. die Situation im Klub loben. Man spüre, dass in Bologna ein Plan verfolgt werde, sagt der 63-fache Nationalspieler. Zwar ist der Klub Teil eines Multi-Klub-Systems, doch mischt sich Besitzer Joey Saputo, dem auch das MLS-Team Montreal gehört, nicht ein und überlässt das Tagesgeschäft den erfahrenen Händen von Sartori oder Sportdirektor Marco Di Vaio. Sie arbeiten am «Miracolo Bologna», wie die «Gazzetta dello Sport» titelte, also dem «Wunder von Bologna».
Der Erfolg des behutsam aufgebauten Teams könnte jedoch nicht nur Segen, sondern auch Fluch sein. Motta gilt als einer der Hauptkandidaten für die Nachfolge von Xavi beim FC Barcelona. Auch Spieler wie Zirkzee dürften umworben werden. Wie so oft könnte das Überraschungsteam also auseinanderbrechen. Daran wollen sie in Bologna jedoch noch nicht denken. Schliesslich gibt es noch ein grosses Ziel zu erfüllen: Der FC Bologna soll endlich wieder nach Europa – und vielleicht ja sogar in die Champions League.
ps: warum dan ndoye 50 anrufe braucht um von basel in die serie A zu wechseln, ist mir ein rätsel