Wenn Stephan Andrist seine Wohnung verlässt, braucht er nur fünf Minuten und schon ist er am Strand. Der Schweizer hat sich im Seebad Warnemünde an der Ostsee eine Wohnung genommen und fühlt sich pudelwohl im hohen Norden. Dass ständig ein Wind bläst, stört ihn nicht. Er kann auch ganz unbeschwert durch den Ort spazieren, ohne ständig angesprochen zu werden. «Im Städtchen halten sich viele Touristen auf, und diese erkennen mich kaum», sagt Andrist.
Der 29-Jährige ist allerdings nicht als Feriengast nach Deutschland gekommen. Sobald der Fussballprofi eine Viertelstunde nach Süden fährt und in Rostock eintrifft, dann spürt er schon, dass er hier nicht mehr ganz unbekannt ist. Bald sind es zwei Jahre her, seit er in der Hansestadt eingetroffen ist. Nach acht Jahren im Schweizer Fussball, mit Stationen in Thun, Basel, Luzern und Aarau sowie 150 Partien in der Super League, ist er ausgezogen, um etwas Neues zu sehen und seinen Traum vom Ausland zu leben.
«Ich habe diesen Wechsel nie bereut, alle meine Wünsche sind voll in Erfüllung gegangen», sagt Andrist. «Ich habe immer gespielt und viele Skorerpunkte gesammelt.» In der ersten Saison bei Hansa brachte er es auf beachtliche 30 Einsätze (sieben Tore), obwohl er erst am siebten Spieltag ins Geschehen eingegriffen hatte.
In der laufenden Spielzeit hat er gar noch keine einzige Partie verpasst und stand in 36 von 38 Spielen in der Startaufstellung. Ausser dem Torhüter hat keiner mehr Spielminuten in den Beinen als Andrist. Er spielt im 4-1-4-1-System im rechten Mittelfeld und macht dort viel Dampf.
«Unsere Spielart kommt mir entgegen. Wir setzen auf Konterfussball, sodass ich meine Schnelligkeit ausspielen kann», sagt der Berner Oberländer. «In der 3. Liga wird sehr kampfbetont gespielt, jeder kann jeden schlagen und die Taktik spielt eine etwas kleinere Rolle als in der Schweiz.» Hinzu kommen die bis zu zehnstündigen Busfahrten zu Auswärtsspielen.
Hätten die Rostocker ein paar Spiele mehr gewonnen, als 16-mal die Punkte zu teilen, wäre mehr als der aktuelle Rang 14 dringelegen. «Nach der schwierigen letzten Saison haben wir uns diesmal wenigstens aus dem Abstiegskampf rausgehalten», sagt Andrist. Von 1995 bis 2005 gehörte Hansa noch der Bundesliga an, 2010 erfolgte dann der erstmalige Abstieg in die Drittklassigkeit.
Zu jener Zeit hat Andrist noch für den FC Thun gespielt. Vom FC Dürrenast gekommen, hatte er sich ein Jahr nach seinem Debüt in der Super League Schien- und Wadenbein gebrochen. Die Genesung zog sich in die Länge. Es gab viele Rückschläge, und hätte Trainer Murat Yakin den gelernten Bodenleger nicht vom Weitermachen überzeugt, wäre Andrist wohl für den Profifussball verloren gewesen. Doch er kämpfte sich wieder heran, stand in einem Europacupspiel gegen Stoke City nach dem Platzverweis des Torhüters David Da Costa sogar für ein paar Minuten zwischen den Pfosten und wurde nach einem furiosen Saisonstart im August 2011 als Leader des Torschützenklassements zum FC Basel transferiert.
Unter Thorsten Fink kam er regelmässig zum Zug, Heiko Vogel indes fand kaum Verwendung für ihn. Gleichwohl war die Zeit in Basel ein Erfolg für Andrist. Zweimal Meister, einmal Cupsieger steht seither auf seiner Visitenkarte. In der Champions League indes kam er nicht zum Einsatz, lediglich einmal, beim sensationellen 1:0-Sieg der Basler gegen Bayern München, stand er im Kader.
Aus der Zeit in Aarau sind vor allem seine Flugeinlagen in Erinnerungen geblieben, die ihn zum Schweizer Schwalbenkönig werden liessen. «Das liegt lange zurück, das ist gegessen», sagt Andrist, der den Ruf, ein Schummler zu sein, längst abgelegt hat. In dieser Saison hatte er bisher lediglich zwei gelbe Karten kassiert.
Wie alle Schweizer Fussballer, die das Privileg haben, in Deutschland ihrem Beruf nachzugehen, schwärmt Andrist von der Fussballbegeisterung im Land des Weltmeisters. «Der Stellenwert ist auch in der 3. Liga sehr hoch. Viele Spiele werden live im Fernsehen übertragen», sagt Andrist. Die Fans in Rostock sind Hansa auch nach den beiden Abstiegen treu geblieben. «Als wir kürzlich in Bremen spielten, haben uns nicht weniger 4000 Fans begleitet», sagt Andrist. «Zu den Heimspielen kommen im Schnitt 11'000.»
Trainiert wird Hansa von Christian Brand, den Andrist noch aus Thuner Zeiten kennt, weil der Deutsche damals im Oberland Co-Trainer von René van Eck war. «Wir wissen, wie wir miteinander umgehen müssen», sagt Andrist. «Er weiss, wie er mich kitzeln muss.»
Das gelingt Brand prächtig. Elf Tore hat sein Schützling schon auf dem Konto und gehört damit zum Dutzend der besten Torjäger der Liga. Bemerkenswert für einen Spieler auf der Aussenbahn. Dazu kommen noch vier Assists. «Er wird in der 3. Liga nicht zu halten sein», hat der Trainer die Rostocker Fans schon mal sachte darauf vorbereitet, der Publikumsliebling sei dann in der nächsten Saison vermutlich nicht mehr da.
Andrist selber sagt, dass er derzeit nichts sagen dürfe. Doch er verhehlt nicht, dass es ihn reizen würde, eine Liga höher zu spielen, um seine Grenzen auszuloten. «Ich habe zwei Jahre lang durch Leistung auf mich aufmerksam gemacht», sagt Andrist. Ende Juni läuft der Vertrag mit Hansa aus. Seine Karten für einen schönen Transfer sind gut
Zuvor hat Hansa aber noch ein grosses Ziel: Am 25. Mai um 14.45 Uhr steht in Neustrelitz der Final im Landespokal Mecklenburg-Vorpommern auf dem Programm. Gegner ist der Sechstligist MSV Pampow. «Endspiele sind immer heikel», sagt Andrist.