Favre sitzt in seinem Büro. Er sortiert nicht die Komplimente der Fachleute, sondern studiert den Spielplan: «Wir haben jetzt zehn Spiele in 31 Tagen vor uns.» Es wäre atypisch für ihn, würde er sich keine Sorgen machen: «Unser Kader ist dünn, ich erwarte einen verrückten Monat.» Hinter ihm liegt eine zwölfwöchige Serie der Ungeschlagenheit, die erst am vorletzten Sonntag in Caen endete. «Wegen eines völlig unnötigen Fehlers!»
Die bisher einzige Niederlage in der Ligue 1 ist inzwischen aufgearbeitet. Der Romand hat während der Nationalteampause ausgiebig Video-Aufnahmen gesichtet. Sein Fazit gilt für alle Partien seiner Equipe: «Wenn es uns nicht gelingt, ans Limit zu gehen, geraten wir sofort in Schwierigkeiten.» Die Topklassierung nach etwas weniger als einem Drittel des Pensums sei entsprechend zu relativieren, eine seriöse Zwischenbilanz sei vor Mitte Dezember nicht möglich. «Wir haben das Glück teilweise auch erzwingen können.»
Im medialen Umfeld äussern sich die Kommentatoren zur beeindruckenden Performance des Westschweizer Taktgebers weniger zurückhaltend. Sie ziehen den Hut, sie honorieren den historischen Höhenflug der Niçois in Form von veritablen Essays. Ex-Nationalcoach Raymond Domenech, inzwischen Präsident der französischen Trainer-Union, holte in seiner «Equipe»-Kolumne weit aus: «Ich habe Lucien gescannt, dabei aber nicht ein negatives Detail feststellen können. Er ist für alle Trainer im Land ein Beispiel, jeder sollte ihm eine lange Karriere in Frankreich wünschen.»
Bereits mehrfach ist der Schweizer im Land des EM-Finalisten zum Coach der Runde gewählt worden. In Nizza schwärmen sie vom Fussball à la Favre, die 4:0-Gala gegen die weitaus höher eingeschätzte und in einer völlig anderen Budgetkategorie operierende AS Monaco wurde als einen der bedeutenderen Höhepunkte der jüngeren Klubgeschichte eingeschätzt. Nachdem der Klub im letzten Juni über 50 Prozent seiner Torproduzenten (Topskorer Hatem Ben Arfa und Valère Germain) verloren hatte, fielen die Saison-Prognosen eher verhalten aus - bis Favre den Umbau orchestrierte.
Mit seiner charmanten Art und seiner Offenheit kommt der nicht ganz alltägliche Fussball-Lehrer gut an. Er nimmt sich dann und wann Zeit, Journalisten oder Trainingsgästen seinen Game-Plan zu erklären. Persönliche Inputs werden in einer Zeit der uniformierten Inhalte und angesichts der Tendenz, die Protagonisten vermehrt von der Öffentlichkeit abzuschotten, wohlwollend registriert; zumal Favre ohne Kalkül doziert.
Und der Ligue-1-Neuling hat einen weiteren massgeblichen Pluspunkt vorzuweisen. Ihm ist innert Kürze gelungen, was in den letzten Jahren selbst renommierteste Branchenkollegen nicht geschafft haben: Er hat Mario Balotelli unter Kontrolle. Der abgedriftete Wunderknabe poliert im Süden Frankreichs sein ramponiertes Image auf. «Ich behandle ihn korrekt und konstruktiv», so Favre und spricht über seine Ziele mit dem Italiener: «Es geht darum, ihn zu verbessern, seine Balleroberung zu schulen, seine Laufwege zu intensivieren - denn Mario hat noch viel vor». So wie Favre selber auch.
Und was sagt Balotelli eigentlich über Favre? «Er ist für mich eine Entdeckung», so der 26-Jährige, der mit sechs Toren aus ebenso vielen Ligue-1-Partien massgeblich dazu beigetragen hat, dass Nice an der Tabellenspitze steht. «Er ist taktisch gut und überzeugt in der Kabine», lobt er den Romand. Trotz Balotellis Lobeshymne auf Favre, als Nummer 1 im Trainer-Business sieht der Italiener einen anderen: «Der Beste bleibt für mich Roberto Mancini.»
Ebenso wichtig wie Favre und Balotelli ist Klubchef Jean-Pierre Rivère. Er ist erster und bester Verkäufer der Erfolgsgeschichte. Der omnipräsente Botschafter und Teilaktionär äussert sich auf allen Kanälen zum Aufschwung von «Gym». Der Entscheid, Favre zu engagieren, sei goldrichtig gewesen. Die Zusammenarbeit mit dem 59-Jährigen sei «sehr angenehm. Wir pflegen einen exzellenten Kontakt.» Die Beziehung mit Favres Vorgänger Claude Puel hingegen ist zerrüttet.
Für die alten und vielen neuen Geschichten interessiert sich Favre nur am Rande. «Mir fehlt die Zeit.» Es sei zwar schön, dass die Leute nun auch in Frankreich positiv über ihn sprechen, aber «für mich steht nie die Person, sondern immer das gesamte Projekt im Vordergrund». Die tägliche Adaption fordert ihn heraus, die Balance zu finden, das passende Konzept zu schärfen, alle in seinen anspruchsvollen Plan einzubinden.
Nach gegen achtjährigem Engagement in Deutschland hat sich Favre an der Côte d'Azur neu orientieren müssen. Die Ligue 1 funktioniere anders, die Diskrepanz im Bereich der Wirtschaftskraft sei generell grösser als in der Bundesliga. «Wir haben 42 Millionen Euro zur Verfügung.» Experten kalkulieren damit, dass dem von einem katarischen Fonds finanzierten Titelhalter Paris Saint-Germain rund 480 Millionen mehr zufliessen. Ihr Potenzial sei mit jenem der Spitzenklubs nicht zu vergleichen, warnt Favre im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda. (pre/sda)