Am Montag beantwortete Deutschlands Nationaltrainer vor den Nations-League-Spielen gegen Ungarn und die Niederlande zwei wichtige Fragen: Erstens bestätigte Julian Nagelsmann, dass Marc-André ter Stegen nach dem Rücktritt von Manuel Neuer wie erwartet die neue Nummer 1 im deutschen Tor wird. Zweitens, und womöglich noch wichtiger, erklärte er Joshua Kimmich zum neuen Kapitän.
«Er war der logische Nachfolger», erklärte Nagelsmann, denn Kimmich «geht mit seiner Mentalität voran». Auch Lothar Matthäus bezeichnet den 29-Jährigen in seiner Sky-Kolumne als «logische und richtige Wahl» für die Nachfolge vom wie Neuer aus dem Nationalteam zurückgetretenen Ilkay Gündogan. «Sein Standing, seine Leistung und seine Erfahrung sprechen für sich», so Deutschlands Rekordnationalspieler, der anfügt: «Er legt auch verbal mal den Finger in die Wunde und das darf er jetzt als Kapitän erst recht.»
Der logische Captain wäre Joshua Kimmich in der Vergangenheit aber nicht immer gewesen. Polarisieren tut der Bayern-Star schon lange. Dies hat auch mit seiner Verbissenheit und seinem zuweilen fast übertriebenem Ehrgeiz zu tun, mit dem er gemäss der Sportschau «nicht nur manchem Gegenspieler ein wenig auf die Nerven gehen kann».
2013 wechselte er mit 18 Jahren aus Stuttgart, wo ihm der Sprung zum Profi nicht zugetraut wurde, zum damaligen Drittligisten RB Leipzig. Dort spielte er sowohl in der dritten als auch in der zweiten Liga so gut, dass ihn zwei Jahre später Bayern München verpflichtete. Auch beim Rekordmeister setzte er sich schnell durch und war ab seiner 3. Saison nicht mehr wegzudenken. Anfangs noch als Rechtsverteidiger, später dann im defensiven Mittelfeld. Im Zentrum war er beim Gewinn des Triples in der Saison 2019/20 eine wichtige Figur und gehörte fortan zu den besten auf seiner neuen Position.
Doch wenig später folgte der erste Bruch in seiner öffentlichen Wahrnehmung. Wurde er schon zuvor nicht überall gemocht, fiel er während der Corona-Pandemie bei vielen in Ungnade. Indem Kimmich im Oktober 2021 öffentlich erklärte, nicht geimpft zu sein, schadete er seiner mit Mitspieler Leon Goretzka gegründeten Organisation «We Kick Corona». Diese setzte sich unter anderem dafür ein, dass Impfstoffe auch in ärmere Länder geschickt werden, und schrieb auf dem offiziellen Twitter-Account, dass die Pandemie nur in den Griff zu bekommen sei, «wenn überall auf der Welt ausreichend Impfstoff verabreicht werden kann».
Kimmich begründete seinen Entscheid mit fehlenden Langzeitstudien über die Folgen. Obwohl er eine künftige Impfung nicht ausschloss, entstand eine grosse Debatte um ihn. Ihm wurde die Vorbildrolle abgesprochen und harscher Kritik ausgesetzt. Nachdem er selbst an Covid-19 erkrankt und aufgrund der Folgen des Virus länger pausieren musste, erklärte Kimmich, dass sein Zögern ein Fehler war. «Es wäre besser gewesen, mich früher impfen zu lassen.» Gleichzeitig sprach er aber auch darüber, wie sehr ihm die Berichterstattung darüber zu schaffen gemacht habe. «Es wurden Grenzen überschritten», so Kimmich.
Unterstützung vom FC Bayern erhielt er in dieser für ihn schwierigen Phase in seinen Augen zu wenig. «Ich habe mich zu lange alleingelassen gefühlt», erklärt er in einem in der ZDF-Dokumentation «Anführer und Antreiber» veröffentlichten Interview vom März 2022. Von der Reaktion des Klubs war er «enttäuscht und auch getroffen».
Gleichzeitig befand sich Kimmich auch sportlich in einer schwierigen Zeit. Der FC Bayern drohte in der Saison 2022/23 erstmals seit 2012 die Meisterschaft zu verpassen. Der Mittelfeldspieler galt als Sinnbild der Krise, selbst im eigenen Team wurde er kritisch gesehen, weil er bei Trainer Nagelsmann als Lieblingsschüler galt. Im März wurde sein Vertrauter dann entlassen. Zwar rettete Bayern kurz vor knapp noch den Titel in der Bundesliga, doch folgte eine weitere schwierige Saison.
Im Nationalteam lief es ebenso wenig nach Wunsch. Dies lag vor allem auch an den 1995er- und 1996er-Jahrgängen, die hinter den hohen Erwartungen zurückblieben. Zu diesen gehören neben Kimmich auch Goretzka, Serge Gnabry, Leroy Sané oder Jonathan Tah. Spätestens nach dem WM-Vorrundenaus 2018 hätten diese von der alten Garde um Thomas Müller übernehmen sollen. Kimmich und Co. gelang es aber nicht, die deutsche Nationalmannschaft in eine neue erfolgreiche Ära zu führen.
Wie bei Bayern konnte Kimmich sein Topniveau kaum noch erreichen. So wurde er nicht nur zum Sinnbild der Krise des deutschen Fussballs und von Bayern München, sondern auch in beiden Fällen zum Sündenbock gemacht. Und wie das in Deutschland besonders in Verbindung mit dem Nationalteam so ist, schlug Kimmich viel Hass entgegen. Insbesondere seine angebliche Weigerung, auf die Rechtsverteidiger-Position – eine Problemzone der Deutschen – zurückzukehren, stiess auf Unverständnis.
Doch dann kam in diesem Frühling der Aufschwung. Unter Ex-Bayern-Trainer Julian Nagelsmann fand das deutsche Nationalteam neues Selbstvertrauen – und mit ihm auch Joshua Kimmich. Die Europameisterschaft im eigenen Land wurde, wenn auch sportlich nur bedingt, zum Erfolg. Deutschland gewann sein Nationalteam wieder lieb.
Das konnte auch Kimmich für sich nutzen. Auf dem Tiktok-Kanal des DFB-Teams war er der heimliche Held. Mit seiner für viele überraschend lustigen, aber auch natürlichen und erfrischenden Art gewann er viele Sympathien.
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Doch auch bei ernsteren Themen wusste der 91-fache Nationalspieler zu punkten. Angesprochen auf eine ARD-Umfrage von vor dem Turnier, in der 20 Prozent der Befragten mehr weisse Nationalspieler forderten, äusserte sich Kimmich deutlich: «Das ist absolut rassistisch und hat keinen Platz bei uns in der Kabine.» Der Schwabe sprach sich klar für die Diversität im Fussball aus und hinterfragte auch die Umfrage an sich. «Wenn man überlegt, dass wir vor einer Heim-EM stehen, ist es schon absurd, so eine Frage zu stellen, wo es eigentlich darum geht, das ganze Land zu vereinen.»
Positiv aufgenommen wurde auch, dass sich Kimmich nun doch bereit erklärte, rechts hinten statt im Zentrum zu spielen. Wobei der Kritisierte selbst die Debatte etwas übertrieben empfand. So sagte er schon im Juni: «Wenn mich jemand nach meiner Lieblingsposition fragt, dann sage ich: das zentrale Mittelfeld. Aber diese ganze Diskussion um die Rolle als Rechtsverteidiger kam von aussen, und sie hat für mich oft so ausgesehen, als ob da künstlich Unruhe erzeugt werden sollte.»
Nagelsmann erklärte, dass Kimmich auch in Zukunft als Rechtsverteidiger eingesetzt werde. «Er hat eine Benchmark gesetzt bei der EM», lobte der Bundestrainer. Am Dienstag erklärte Kimmich selbst: «Ich hoffe, dass man bei der EM gesehen hat, dass ich auch auf dieser Position Spass habe.» Anführen kann der 29-Jährige auch von dort. «Josh ist ein Vorbild für die gesamte Truppe. Er gibt immer Vollgas, will immer trainieren – manchmal zu viel – und ist nie müde», so Nagelsmann. Ein wichtiger Punkt war gemäss dem 37-jährigen Coach zudem, dass Kimmich «einen guten Draht» zum Rest des Teams habe.
Das war nicht immer so, doch gewann Joshua Kimmich als meinungsstarker, aber auch zielstrebiger Antreiber wohl nicht zuletzt an der EM viel Respekt im Team. Und wurde so am Ende eben doch zur logischen Wahl als Deutschlands Kapitän.