Eine Stunde hätten die Busse unterwegs sein sollen, so war das geplant. Doch sie brauchen dann mehr als zwei, um durch dieses rote Meer zu kommen, Rot hier und da, rote Leibchen, roter Rauch, alles rot. Es ist die Farbe des AFC Wrexham. Den lieben sie in der Stadt im Norden von Wales über alles, schon seit vielen Jahren, und jetzt gibt es etwas zu feiern, endlich wieder: Aufstieg, League Two statt National League, nach 15 Jahren.
40000 Menschen drängen sich am Dienstagabend in die Strassen, sie trinken und winken und jubeln zu den drei Bussen, die ihre Helden durch die Stadt tragen. Dort oben, auf dem Dach der Doppeldecker, steht Paul Mullin, der treffsichere Stürmer. Stehen die anderen Aufstiegshelden. Und natürlich sind auch Rob und Ryan da.
Rob und Ryan, so nennen sie die beiden in Wrexham nur noch. Das verrät schon viel über dieses Märchen, und anders kann man das alles nicht bezeichnen: In Wrexham spielt sich gerade ein Märchen ab. Es ist ein sehr modernes, wie es sich nur in Zeiten der sozialen Medien und Streaming-Dienste ereignen kann.
🔊
— Wrexham AFC (@Wrexham_AFC) May 2, 2023
🔴⚪️ #WxmAFC pic.twitter.com/O3gU50fcOs
Rob und Ryan, das sind Rob McElhenney und Ryan Reynolds, zwei Männer aus den USA, Schauspieler alle beide, in Los Angeles zu Hause, in Hollywood bekannt; der eine, Reynolds, gar ein Superstar. Deadpool, Free Guy, solche Filme macht der Kanadier, verheiratet ist er mit Blake Lively, auch sie eine Hollywood-Grösse.
Und jetzt sind Rob und Ryan aus Hollywood nach Wrexham gekommen, um den Aufstieg des AFC zu feiern. Das ist ein Klub, von dem die beiden bis vor ein paar Jahren nichts wussten; der in einer Stadt daheim ist, die sie nicht kannten; der eine Sportart betreibt, die sie für langweilig hielten. Und der ihnen seit mehr als zwei Jahren gehört.
Am Anfang von alledem steht Rob McElhenney und seine Liebe zum Sport. Zum American-Football-Team in seiner Heimatstadt, den Philadelphia Eagles, geht er schon als Bub. Und er träumt schon länger davon, irgendwann einmal einen Klub zu besitzen.
An Fussball denkt McElhenney anfangs eher nicht, doch das ändert sich während der Pandemie. Der 46-Jährige sitzt zu Hause, er hat viel Zeit, auch für Sportdokumentationen. Er schaut «Sunderland 'til I Die», die Serie über den Fussballklub aus dem Nordosten Englands, der auf der Suche nach seiner alten Grösse immer weiter abstürzt – und beschliesst, dass er auch so eine Serie machen will: mit seinem eigenen Klub.
Dieser Klub soll Tradition haben, eine Fanbasis – und er soll, nun ja, am Boden liegen, ein wenig zumindest. In Hollywood mögen sie bekanntlich Stehaufmännchen.
Den AFC Wrexham gibt es seit 1864, er spielt im Racecourse Ground, Eröffnung: 1806. Er ist kein erfolgreicher Klub, hat es nie in die oberste englische Liga geschafft, aber in Wrexham ist er tief verwurzelt. Die Leute in der Stadt erzählen stolz von einem Sieg gegen Arsenal, FA-Cup, Saison 91/92 und der Sensation gegen Porto, Cupsieger-Cup, 1984/85. Manche wollen, dass nach dem Tod ihre Asche im Stadion verstreut wird.
Mehr als einmal hat die Stadt für ihren Klub gekämpft, hat ihn gerettet, vor windigen Investoren und der Pleite; sogar kleine Kinder sollen ihr Sparschwein auf die Geschäftsstelle gebracht haben, wenn es wieder einmal knapp war. Ab 2011 gehört der Klub den Fans, er dümpelt da schon in der National League, der fünfthöchsten Liga. Das Geld fehlt. Der Racecourse Ground, den sie in der Stadt alle so lieben, bröckelt vor sich hin, und eigentlich gilt das auch für den Rest der Stadt, seit Eisenindustrie und Kohleminen verschwunden sind.
Kurz: Es läuft nicht gut, für den AFC Wrexham. Und dann tauchen plötzlich zwei Stars aus Hollywood auf und wollen den Klub kaufen. Klingt zu gut, um wahr zu sein. Muss ein böser Scherz sein. Das denken viele. Märchen spielen sich sonst eher nicht in Wrexham ab. Aber diesmal schon. McElhenney und Reynolds, der Hunderte Millionen schwer und mittlerweile auch an Bord gekommen ist, stellen den Fans ihre Pläne vor. Und übernehmen den Klub im Februar 2021, Kaufpreis: 2 Millionen Pfund.
Etwas mehr als zwei Jahre ist das jetzt her. Im Racecourse Ground wurde gerade neues Flutlicht installiert. Eine moderne Tribüne soll das altehrwürdige Stadion auch bald bekommen, über 15000 Zuschauern bietet es dann Platz. Zuletzt platzte das Stadion aus allen Nähten.
Zum Racecourse Ground gehört auch «The Turf». In diesem Pub wurde der AFC Wrexham 1864 gegründet, bis heute versammeln sich dort die Fans. Auf Backsteinen haben Besucher ihre Namen hinterlassen, an den Wänden hängen Fussballtrikots. Neuerdings findet man dort auch Bilder von Rob und Ryan. Und trifft Amerikaner und Kanadier. Tausende von ihnen sind laut Wayne Jones in den letzten Monaten ins «Turf» gekommen.
Manchmal fragt sich Jones, der Besitzer des Pubs, was in seinem Leben eigentlich passiert ist. Da ist er nicht der Einzige in Wrexham. Die 60000-Einwohner-Stadt steht nun auf der internationalen Fussball-Landkarte. Das liegt an «Welcome to Wrexham», der Serie, die seit letztem August läuft und erzählt, wie es McElhenney und Reynolds ergeht, seit sie den Klub übernommen haben. Die Hollywood-Stars spielen eine prominente Rolle, doch meist gehört die Bühne dem Klub und seinen Fans, der Stadt, Wales.
Ausgestrahlt wird die Doku beim Streaming-Sender Disney Plus. Für den Klub ist sie ein Segen. In den sozialen Medien erreicht er mittlerweile rund drei Millionen Menschen, Tendenz: rasant steigend. Alles spricht über Wrexham. Und das macht den Klub für grosse Firmen interessant.
Auf der Brust der Fussballer prangt das Logo von TikTok, auch das Online-Reisebüro Expedia gehört zu den Sponsoren. Manchmal bringen McElhenney und Reynolds einen Freund aus Hollywood mit. Will Ferrell war schon da, Paul Rudd auch. König Charles hat den Klub im Dezember besucht.
Das ist schon mal einiges für einen Fünftligisten. Der National League ist er längst entwachsen. In der Saison 21/22, der ersten mit den neuen Besitzern, setzte der Klub 6 Millionen Pfund um, viermal so viel wie in der Vorsaison. Und «Welcome to Wrexham» war da noch gar nicht angelaufen. Den Aufstieg in die League Two, die vierthöchste Spielklasse, sicherten Fussballer, die auch ein, zwei Ligen höher spielen könnten. Für sie ist Wrexham auch interessant, weil die TV-Doku eine Plattform bietet.
Vor ein paar Tagen gaben McElhenney und Reynolds ein TV-Interview. Langweilig finden sie Fussball längst nicht mehr. Sie sagten, wie sehr sie das alles lieben. Was für eine Ehre es sei, dem Klub und der Stadt zu helfen.
Sie sprechen oft davon, das alles für die Stadt zu tun. Und tun auch viel. Spenden für die «food bank». Verschenken für jedes Spiel 200 Tickets an Leute, die sonst nicht ins Stadion könnten. Zeigen sich oft vor Ort. Lernen sogar die Sprache. Vergiessen Tränen, als der Aufstieg fest steht.
Die beiden tun, was in einer Sport-Doku noch nie jemand getan hat: Sie dokumentieren eine Geschichte, die sie als Klubbesitzer auch selbst schreiben. Das ist Neuland, für TV-Produzenten wohl auch: Traumland. Für Fussballer und Trainer vielleicht irgendwann eher weniger. Doch vorerst profitieren alle.
Ja, das passiert wirklich: Das müssen sie sich in Wrexham gerade öfter mal sagen. Wohin das alles noch führt? Im Sommer steht eine US-Tour an, unter den Gegnern: Chelsea und Manchester United. League Two gegen Premier League. Und da wollen McElhenney und Reynolds hin, das sei ihre Mission, so sagen sie das, ganz im Ernst.
Kürzlich kamen sie auf die Idee, Gareth Bale zu verpflichten, den grossen walisischen Fussballer, der im Winter zurücktrat. Der reagierte amüsiert, aber zurückhaltend auf Social-Media-Avancen. Die waren wohl primär ein Marketing-Gag. Doch in Wrexham scheint gerade alles möglich.
Hey @GarethBale11 let’s play golf, where I totally won’t spend 4 hours trying to convince you to un-retire for one last magical season 🏴 🏴 🏴 🏴 ❤️ pic.twitter.com/FZgXZbM4zx
— Rob McElhenney (@RMcElhenney) April 25, 2023