Es gibt viele Helden in diesem Team. Da wäre zum Beispiel Victor Osimhen, der nigerianische Stürmer mit 26 Toren. Dann wäre da der südkoreanische Abwehrkoloss Kim Min-jae, der die beste Defensive der Serie A zusammenhält. Oder Trainer Luciano Spalletti, der mit 64 Jahren doch noch vor dem Gewinn seines ersten italienischen Meistertitels steht. Nicht zuletzt gibt es da Chwitscha Kwarazchelia, kongenialer Partner Osimhens und nach diesem zweitbester Skorer der Liga.
Obwohl der SSC Neapel den Titel noch gar nicht gewonnen hat, werden die Spieler bereits seit Wochen als Meisterhelden gefeiert, sind die Strassen und Häuser in Himmelblau und Weiss getaucht und ist schon an vielen Orten «Campione D'Italia 2022/23» zu lesen.
Allen voran Kwarazchelia steht stellvertretend für den rasanten Aufstieg des Klubs. Vor der Saison für 11,5 Millionen Euro aus Georgien gekommen, schnellte sein Marktwert um 70 Millionen Euro in die Höhe und steht nun bei 85 Millionen Euro. Damit ist der georgische Flügelspieler unter den 15 wertvollsten Spielern der Welt. Der 22-jährige Kwarazchelia spielte zuvor einzig in seiner Heimat und einige Jahre in Russland. Gerade wegen seiner teils unkonventionellen, nicht durch viele Jahre in einer Juniorenabteilung eines Topklubs geschliffenen Spielweise wird er bewundert – und passt perfekt in diese verrückte Stadt.
In der Vergangenheit wurde Neapel vor allem mit Korruption, Kriminalität oder Armut in Verbindung gebracht und war auch für den grossen Einfluss der mafiösen Organisation Camorra bekannt. Die Bevölkerung der süditalienischen Stadt fühlte sich von der Regierung in Rom vernachlässigt. Wirtschaftlich wurde der Süden Italiens vom Norden abgehängt. Gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung erzählt der neapolitanische Schriftsteller Maurizio De Giovanni: «Man muss die Geschichte Neapels innerhalb eines staatlichen Systems sehen, das den Süden völlig sich selbst überlassen hat.»
So entwickelte sich ein regelrechter Hass auf den Norden und auch seine Fussballklubs. Denn auch im liebsten Sport der Neapolitanerinnen und Neapolitaner wurde ihre Stadt von den Vertretern aus dem Norden dominiert. Seit Neapels Triumph in der Saison 1989/90 kam der italienische Meister nie mehr aus einer Stadt südlich von Rom, überhaupt gingen nur drei der 32 Titel nicht an Juventus oder einen der beiden Mailänder Klubs AC und Inter.
Doch Neapel und seine Bevölkerung haben in den letzten Jahren ein neues Selbstbewusstsein gefasst, wie De Giovanni der NZZ sagt. Die Wirtschaft wächst wie keine andere in Italien, Autorinnen und Regisseure der Stadt gehören zu den angesagtesten des Landes, der Tourismus floriert und obwohl die altbekannten Probleme noch nicht gelöst sind, führt Bürgermeister Gaetano Manfredi die Stadt in eine positive Zukunft. «Neapel ist heute eine stolze europäische Metropole und Kulturstadt», so der 65-jährige Schriftsteller. Und das liegt auch an Kwarazchelia und Co. Denn das Selbstverständnis der Neapolitanerinnen und Neapolitaner ist eng mit dem Fussballklub verbunden.
Das grösste Idol der Stadt ist noch immer Diego Armando Maradona. Dieser führte den Klub zwischen 1984 und 1991 zu seinen bisher einzigen beiden Meisterschaften sowie einem UEFA-Cup-Titel. Schon vor der Saison wurde Kwarazchelia mit Maradona verglichen. In Anlehnung an den Argentinier nannten sie ihn «Kwaradona», weil die süditalienischen Fans den georgischen Namen nicht aussprechen konnten. Im Nachhinein erscheint der Spitzname jedoch mehr wie eine Prophezeiung.
Dabei sah vor der Saison nichts danach aus, als würde ein so erfolgreiches Jahr bevorstehen. Einige Fans forderten den Rauswurf von Trainer Spalletti, zudem drohte der Streit mit dem Vereinspräsidenten Aurelio De Laurentiis nach den Abgängen von Fanlieblingen wie Lorenzo Insigne, Kalidou Koulibaly und vor allem Dries Mertens zu eskalieren.
Der römische Filmproduzent genoss in Neapel ohnehin kein hohes Standing, obwohl er den Klub nach dessen Konkurs 2004 übernahm und aus der Serie C zu einem der besten Vereine des Landes führte. Besonders bei den Ultras war De Laurentiis unter anderem wegen der ihrer Meinung nach zu hohen Ticketpreise sowie dem Beschneiden einiger ihrer Privilegien verhasst. Noch während der laufenden Saison boykottierten diese die Spiele zeitweise gar, der Präsident stand unter Polizeischutz.
Doch dann machte der Hass der überbordenden Euphorie Platz. De Laurentiis, der immer als ein Aussenstehender betrachtet wurde, kaufte sich in diesem Jahr ein Haus in Neapel und lud einige Vertreter der Ultra-Gruppierungen ein, um sich mit diesen auszusprechen. Im Anschluss teilte er in den sozialen Medien ein Bild mit diesen. So ziehen in Neapel nun endgültig alle an einem Strang.
Napoli siamo noi. Presidente e tifosi uniti per vincere! #ADL pic.twitter.com/FNlZTGffWp
— AurelioDeLaurentiis (@ADeLaurentiis) April 15, 2023
Schon am vergangenen Wochenende schien alles für eine grosse Party gerichtet. Nicht nur im und ums Stadio Diego Armando Maradona, sondern verteilt in der ganzen Stadt versammelten sich die Fans, um nach 33 langen Jahren endlich wieder einen Titel zu feiern. Bereits der Sieg von Inter Mailand über den ersten Verfolger Lazio Rom liess das Publikum in Ekstase verfallen. Erst dadurch wurde der vorzeitige Titelgewinn am 32. Spieltag möglich, ein Sieg im Kampanien-Derby gegen Salernitana hätte die Entscheidung gebracht. Doch es sollte nicht sein. Das Spiel endete 1:1 und so blieb die ganz grosse Party noch aus.
Aber mittlerweile besteht kein Zweifel mehr, ob Napoli Meister wird. Es ist nur noch die Frage, wann. 18 Punkte beträgt der Vorsprung auf den Hauptstadtklub sechs Runden vor Schluss. Schon heute, Mittwochabend, könnte es so weit sein, sollte Lazio nicht gegen Sassuolo gewinnen. Ansonsten braucht Napoli am Donnerstag gegen Udinese nur einen Punkt zum 3. «Scudetto» der Vereinsgeschichte. Für die vielen Fans, die beim Auswärtsspiel nicht live dabei sein können, wird im neapolitanischen Stadion ein Public Viewing organisiert.
Che spettacolo... 🩵#Napoli 3️⃣🇮🇹⏳ pic.twitter.com/aRP29wGt2w
— Salvatore Sannino (@SaxSan2) May 2, 2023
Am letzten Wochenende konnten die Stadt und die Fans schon einmal üben. Für den Fall, dass Napoli am Mittwoch oder am Donnerstag Meister wird, werden die Strassen in der Innenstadt erneut gesperrt. Damit die Vorfreude endlich ungebremst der richtigen Freude weichen kann.