Graue Wolken, ein bisschen Sonne, ein bisschen Niederschlag. Was man an diesem März-Tag vom Wetter halten soll, ist nicht klar. Klar ist hingegen das Bild, das Handballerin Xenia Hodel, 24, zeichnet, wenn sie über die vergangenen Monate mit dem Schweizer Nationalteam spricht. Sie sagt: «Die ganze Zeit mit der Nati hat irgendwann immer eine schwarze Wolke mit sich gebracht.»
Es kommen kapitale Tage auf die Schweizer Handballerinnen zu. Am Samstag in Basel (15.00 Uhr, SRF) und am Dienstag in Brünn (19.30 Uhr, SRF) treffen sie im Rahmen der WM-Playoffs auf Tschechien. Über 3000 Tickets sind abgesetzt - Rekord für ein Frauenländerspiel in der Schweiz. Eine der wichtigsten Spielerinnen der letzten Jahre fehlt. Und sie fehlt freiwillig: Xenia Hodel.
Sie steht dem Schweizerischen Handball-Verband (SHV) wie zwei andere Spielerinnen «aus beruflichen, privaten oder persönlichen Gründen zumindest vorübergehend nicht zur Verfügung», wie dieser im Februar schreibt. Die Linkshänderin bestätigt dies. Es sei kein Rücktritt, aber: «Ich habe dem Verband gesagt, dass ich nicht mehr mit diesem Trainer zusammenarbeiten will.»
Trainer der Schweizerinnen ist seit 2018 Martin Albertsen. Dank ihm herrscht schnell Aufbruchsstimmung. Hodel: «Er hat uns vermittelt, dass wir die Besten seien oder es werden können.» Die schwarze Wolke zieht erst mit der Zeit auf.
Den Stein ins Rollen bringt ein Zusammenzug im vergangenen Juni. Für Spielerinnen wie Hodel gibt es nach einer langen Saison nur wenige Ferientage. Zudem steckt sie mitten in der Lernphase des Studiums. Doppelte Belastung - für Kopf und Körper. Albertsen befindet, dass einige Spielerinnen nicht fit genug seien, für eine EM-Endrunde brauche es mehr, sprich einen besseren körperlichen Zustand. Es müsse besser auf die Ernährung geachtet, mehr Muskelmasse aufgebaut und die Ausdauer verbessert werden. In den Augen einiger Spielerinnen sind die Worte nicht immer mit Bedacht gewählt.
Nach dem Zusammenzug fordert Albertsen daher wöchentliche Trainingsrapporte ein - in einem Gruppenchat - und verordnet Extratrainings im roten Pulsbereich, was die Saisonvorbereitung mit sieben bis neun Einheiten pro Woche weiter intensiviert. Rapporte für gegenseitige Höchstleistungen? Für Hodel kontraproduktiv: Sie fühlt sich durch Trainer und Mitspielerinnen unter Druck gesetzt und kontrolliert, noch mehr und intensiver zu trainieren.
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— EHF EURO (@EHFEURO) October 10, 2021
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Here is one of the best goals so far by Xenia Hodel, such power! 💪🇨🇭 #ehfeuro2022 #playwithheart pic.twitter.com/a4ZOOb358w
Überdies legt Albertsen den Spielerinnen nahe, Posts von ihren Trainingseinheiten in den sozialen Medien zu teilen. Dass die Teamkolleginnen ständig Bilder und Videos hochladen, setzt Hodel psychisch weiter zu. Sie teilt keine Videos. Durch die permanente Flut an Videos und anderen Beiträgen auf Social Media nimmt das Thema immer mehr Einfluss auf Hodels Alltag und lässt ihr keine Ruhe mehr. Das will sie nicht. Zwischenzeitlich deaktiviert sie darum auch ihren Instagram-Account.
In den letzten Wochen vor der EM wird Hodel panisch. Albertsen hat als Vorbereitung weitere Ausdauertrainings angeordnet, lässt diese aufzeichnen und die Ergebnisse in den Chat schicken. Sie hängt sich rein, absolviert die Trainings, liegt aber kurz darauf krank im Bett. An Trainings ist tagelang nicht zu denken. Sie zittert. Sie bangt. Obwohl sie Stammspielerin ist, sagt sie: «Ich hatte Angst, dass ich aus dem Kader fliege und die EM verpasse. Da war für mich ein Punkt erreicht, an dem ich gesagt habe, das ist nicht mehr gesund.»
Die Spielerin der Spono Eagles stört sich nicht primär ob der harten Trainingsinhalte, sondern daran, dass immer alles öffentlich ist und sich Albertsen im Gruppenchat auch mit persönlicher Kritik nicht zurückhält, wenn die Trainingsergebnisse nicht seinem Gusto entsprechen. Sie fühlt sich in gewisser Weise blossgestellt.
Im November reist sie zwiegespalten nach Slowenien. Da ist Freude, die Schweiz bei ihrer ersten EM überhaupt vertreten zu dürfen. Aber da ist auch die belastete Psyche. Es sind viele kleine Dinge, die sie am Verhalten und der Kommunikationsart ihres Trainers stören. Nach einer EM-Woche sagt Hodel zu sich selbst: «Ich will einfach nur noch nach Hause.»
Anfang Jahr sitzen sie und einige Nati-Kolleginnen beim Schweizerischen Handball-Verband und berichten von ihren Problemen und den Vorbehalten in Bezug auf Albertsens Verhalten. Der SHV nimmt sich der Probleme an, streicht Einzelgespräche zwischen dem Nationaltrainer und den Spielerinnen und setzt stattdessen eine Mediatorin ein. Hodel findet die Massnahme zwar nicht schlecht, sagt aber, dass sich Albertsens Verhalten in den Trainings dadurch noch nicht ändere.
Ist ein solches Verhalten moralisch vertretbar? Hodel stellt sich diese Frage auch. Und sagt: «Ich weiss es nicht. Vielleicht sehe nur ich das so. Vielleicht übertreibe ich.» Einzuschätzen, wann eine Grenze überschritten worden ist, sei schwierig. «Sind die Spielerinnen, für die eine Grenze überschritten worden ist, labiler oder weniger resilient?», fragt sie.
Anruf beim Verband: Ingo Meckes ist Chef Leistungssport beim SHV und damit der Vorgesetzte von Albertsen. Er sagt, der Schweizer Frauenhandball sei gerade dabei, die notwendige Professionalität und Leistungskultur zu entwickeln. Man müsse sich bezüglich der Trainings verhalten wie die Topnationen, wenn man mit diesen mithalten wolle.
Meckes bestätigt, dass es gewisse Probleme gegeben habe in Bezug auf die Kommunikation. Deshalb sei jetzt auch die externe Expertin beigezogen worden. Die Geschichte vom Juni habe man mit dem Team aufgearbeitet und abgeschlossen.
Dass gewisse Spielerinnen damals nicht auf dem gewünschten konditionellen Level waren und Albertsen das angemerkt habe, sei so. Meckes sagt: «Das muss ein Trainer grundsätzlich sagen dürfen. Wir arbeiten nun zusammen an der Sensibilisierung der Sender- und Empfänger-Kommunikation.»
Er lobt aber auch die Spielerinnen, die an den Verband herangetreten sind und die Probleme angesprochen haben. Konstruktive Kritik bringe alle weiter. Und: «Dass Reibungen entstehen, ist normal. Wir sind in einem Prozess auf und neben dem Feld.» Meckes lobt auch Martin Albertsen, dessen Erfolg basiere auf offener und direkter Kommunikation mit dem Team. Albersten sei zwar überrascht gewesen von der Wirkung seiner Worte, habe aber sofort aktiv mitgeholfen, Lösungen zu erarbeiten.
Für Xenia Hodel kommen diese Lösungen persönlich zu spät. Sie finde es gut, wenn der Verband Fortschritte machen will im Frauenhandball. Das habe er auch getan. Sie selbst fragt sich einfach: Mit welchen Mitteln? Ihr geht es auch um Fortschritte abseits des Feldes. Aber, sagt sie: «Ich könnte auch nicht mit gutem Gewissen diese WM-Quali bestreiten und sagen, ich unterstütze das, was wir hier machen.»
Ist sie traurig, dass sie aktuell nicht mehr für die Nati spielt - vielleicht sogar nie mehr? Das Gegenteil ist der Fall. Sie spricht von der «besten Entscheidung», die sie habe treffen können. Sie spürt eine Befreiung. Die schwarze Wolke verzieht sich. (aargauerzeitung.ch)