Wimbledon ist das älteste und bedeutendste Tennisturnier. Nirgendwo ist die Aufmerksamkeit grösser als beim Rasenklassiker im All England Club. Wegen des Ukraine-Kriegs sind Spielerinnen und Spieler aus Russland und Belarus ausgeschlossen. Mit dabei waren dafür zahlreiche Ukrainerinnen. Drei von ihnen erzählen, wie es ist, seit Monaten aus dem Koffer zu leben und nun in Wimbledon zu spielen, während ihre Familien in der Heimat ums Überleben kämpfen. Das sind ihre erschütternden Geschichten.
Als am 24. Februar der Krieg begann, war ich bei meinen Eltern in Odessa. Geweckt wurden wir von Bomben. Zwei Nächte verbrachten wir in einer Tiefgarage, völlig verängstigt. Dann haben meine Eltern entschieden, dass meine 15 Jahre alte Schwester Ivanna und ich die Ukraine verlassen sollen.
Per Schiff gelangten wir über das Schwarze Meer und die Donau nach Rumänien. Von dort reisten wir nach Frankreich weiter, wo ich in Lyon ein Turnier spielte und den Final erreichte. Es war eine unheimlich emotionale Woche und ich wollte dieses Turnier unbedingt für die Menschen in der Ukraine gewinnen. So denke ich bei jedem Turnier: Je erfolgreicher ich bin, desto mehr Aufmerksamkeit erhalte ich und desto mehr kann ich tun.
Denn mir fällt es noch immer schwer, zu verstehen, weshalb das passiert. Ich bin nun seit fünf Monaten weg von zu Hause, so lange wie noch nie. Ich vermisse mein Land, ich vermisse meine Stadt, ich vermisse meine Grosseltern. Obwohl ich Angst davor habe, wie es in Odessa aussieht und obwohl ich weiss, dass die Russen die Stadt belagern, möchte ich zurück und Zeit zu Hause verbringen.
Meine Mutter hat die Ukraine Mitte Mai verlassen und ist nun mit meiner Schwester in einem Ort in der Nähe von Nizza, wo Ivanna trainiert. Mein Vater blieb bis zuletzt in der Ukraine, durfte das Land aber nun für zwölf Tage verlassen, um mit mir in Wimbledon zu sein. Danach muss er wieder zurück. Ich finde es richtig, dass Wimbledon Spielerinnen und Spieler aus Russland und Belarus vom Turnier ausgeschlossen hat. Nicht gut finde ich, dass es keine Punkte für die Weltrangliste gibt. Und zwar deshalb, weil nun alle über die Russen reden, statt darüber, was in der Ukraine passiert.
Ich verlange nicht, dass die Welt versteht, was in meiner Heimat passiert, aber ich wünsche mir Unterstützung. Jeder weiss, was wir brauchen: schwere Waffen. Weil ich will, dass der Krieg bald endet. Die Menschen, die in der Ukraine geblieben sind, machen mich mit ihrem Mut sehr stolz.
Meine Heimat steht unter einer brutalen Attacke durch eine nukleare Supermacht. Die Bomben legen unsere Häuser in Asche, die russischen Soldaten töten Zivilisten, zerstören unsere Leben. Millionen Kinder wissen nun, was Explosionen sind, und wie Angst und Tod aussehen.
Ich finde es richtig, dass keine Russinnen und Belarussinnen in Wimbledon sind. Keine von ihnen hat bisher zu mir gesagt, dass sie den Krieg nicht unterstützen. Für mich ist das schockierend. Dass es keine Punkte gibt, finde ich zwar falsch, was ich aber viel schlimmer finde, ist, dass uns niemand nach unserer Meinung gefragt hat.
Es ist, als würden wir Ukrainerinnen nicht existieren. Auch von Nadal und Djokovic bin ich sehr enttäuscht, weil sie den Ausschluss kritisiert haben. Wir alle wissen, wie wichtig für Russland der Sport ist, um Macht und Stärke zu demonstrieren.
Sport ist Politik, das war schon immer so und wird immer so bleiben. Ganz ehrlich: Wer etwas anderes behauptet, ist einfach nur dumm und sucht nach Ausreden.
Ich bin in Kiew gross geworden und habe dort auch meine Trainingsbasis. Wie diese aussieht, weiss ich nicht. Meinen Eltern und Schwestern geht es gut. Ich versuche, mich aufs Tennis zu konzentrieren, doch es ist eine Achterbahnfahrt. Ich bin ein emotionaler Mensch. Mal fühle ich mich gut, mal passiert etwas und es geht mir wieder richtig schlecht.
Wenn ich die letzten Monate so intensiv erlebt hätte wie die ersten Wochen, wäre ich vermutlich nicht hier. Es ist unmöglich, das zu überleben.
Ich habe das Gefühl, es wird weniger über den Krieg gesprochen. Ich glaube, es ist normal, dass wir uns an Dinge gewöhnen – egal, wie gut oder wie schlecht sie sind. Das ist einerseits verständlich, andererseits führt es zu immer schlimmeren Dingen. Menschen gewöhnen sich an Krieg. Deshalb versuche ich, so laut wie möglich zu sein und darauf aufmerksam zu machen.
Ich persönlich lebe nach dem Motto: Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter. Weshalb solltest du in der Hölle bleiben?
Am 17. Februar bin ich mit meinem Mann Anton nach Doha geflogen – und seither nicht in die Ukraine zurückgekehrt. Meine Trainingsbasis ist in Kiew, aufgewachsen bin ich aber in der Kleinstadt Nowa Kachowa, die am linken Ufer des Dnepr liegt, etwas mehr als eine Autostunde von Cherson entfernt.
Meine Grosseltern leben noch immer dort, in von Russen besetztem Gebiet. Panzer stehen in den Strassen und bewaffnete Soldaten sind jetzt ihre Nachbarn. Verlassen können sie den Ort nicht.
Meine Eltern und mein Bruder leben in Irpin, ausserhalb von Kiew. Ihr Wohnhaus wurde bombardiert, es hat riesige Löcher und ist nicht mehr bewohnbar. Gott sei Dank sind sie am Leben und in Sicherheit. Doch man weiss nie, was der nächste Tag bringt. Sie sind nun mit ihren Hunden und Katzen in Kiew in einem kleinen Appartement, das sonst mein Mann und ich bewohnen. Wann ich sie wieder sehe, weiss ich nicht, das ist schwer zu ertragen.
Seit über vier Monaten leben mein Mann und ich aus dem Koffer, reisen von Hotel zu Hotel. Indian Wells, Miami, Charleston, Istanbul, Madrid, Rom, Paris, s'Hertogenbosch, Berlin, Eastbourne, nun Wimbledon. Nun geht es nach Budapest, danach spiele ich in Hamburg und in den USA.
Von vielen Spielerinnen bin ich enttäuscht, weil sie versuchen, das Thema zu umgehen. Belinda Bencic hingegen, mit der ich öfter Doppel spiele, ist eine enge Freundin. Wir kennen uns, seit wir in Bratislava unter Wladimir Platenik trainiert haben. Sie bot mir Hilfe an und ist bereit, meine Familie und mich zu unterstützen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Mir ist es lieber, wenn einige Wenige zu 100 Prozent zu mir halten, als viele, die mich halb unterstützen. Ich bin froh, Tennis spielen zu können. Ich komme dadurch nicht nur auf andere Gedanken, sondern kann damit auch Geld sammeln, das ich spenden kann. Das ist das, was ich tun kann.
Ich will, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, und bete für den Frieden. Gleichzeitig macht es mir Angst, wie es sein wird, wenn ich in die Ukraine zurückkehre.
(aargauerzeitung.ch)