Alain Sutter, wie war Ihre Gefühlswelt in den vergangenen Tagen nach dem 1:4 im Cupfinal?
Alain Sutter: Am Sonntag war ich schon während des Spiels enttäuscht und traurig. Es tat richtig weh. Ab Montag war das weg. Ich habe das gelernt: Dinge, die vorbei sind, werden nicht besser, wenn man ihnen lange nachtrauert. Nur schon für meine Gesundheit, Lebensqualität und mein Wohlbefinden habe ich für mich entschieden, solche Dinge abzuhaken und vorwärts zu schauen. Man hat stets die Wahl: Aufhören, weitermachen.
Sie machen weiter?
Ja.
Fällt einem das Loslassen einfacher als Spieler oder als Sportchef?
Dies hat nichts mit der Position zu tun. Nur damit, was man für Lehren aus gemachten Erfahrungen gezogen hat. Aus diesem Grund wurde es für mich mit der Zeit einfacher.
Gab es schon eine gemeinsame Analyse?
Wir sind noch nicht zusammengesessen. Ich habe mit Peter Zeidler am Montag geredet. Aber ich habe das Spiel live gesehen, ich muss es nicht nochmals anschauen, um es zu analysieren. Ich habe meine Schlüsse schon dort gezogen.
Worum geht es?
So, wie wir spielen wollen, müssen wir mutig und konsequent sein. Bist du das nicht, schaust du so schlecht aus wie wir am Sonntag – vor allem, wenn du auf einen Gegner triffst, der seine Sache gut macht.
Wenig Mut deutet auf die Angst hin, zu versagen.
Selbstverständlich. Wenn du nicht mutig bist, hast du Angst. Und dann kommt dieser Mechanismus zum Tragen, den Meister Oogway, die weise Schildkröte im Film «Kung Fu Panda», den ich viele Male mit meinem Sohn gesehen habe, so schön formuliert: Er sagte seinem Schüler, meistens trifft man sein Schicksal auf dem Weg, auf dem man es vermeiden will. Genau das geschah am Sonntag. Die Spieler wollten Lugano nicht ins offene Messer laufen, deshalb wollten sie keine Fehler machen, um den Final ja nicht zu verlieren. Und genau diese Strategie hat dazu geführt, dass all dies, was sie vermeiden wollten, schliesslich eintraf.
Hatten die Spieler Angst, weil die Partie extrem aufgeladen war, schon im Vorfeld?
Das kann nur jeder Spieler für sich beantworten, was die spezielle Partie bei ihm ausgelöst hat. Dafür müsste aber jeder intensiv reflektieren. Es war ein Finalspiel, da wird der Wettkampf auf die Spitze getrieben. Es ist logisch, dass Erwartungen, Euphorie und Aufmerksamkeit dabei gross sind. Wer mit all dem besser umgehen kann, der gewinnt. Wenn du jemals etwas gewinnen willst, musst du im entscheidenden Moment mutig und konsequent sein, in dem was du tust. Sonst verlierst du.
Ist das der Weg vom durchschnittlichen zum guten oder vom guten zum sehr guten Spieler?
Natürlich. Das definiert Titelgewinner, Finalsieger, jene, die grosse Karrieren machen. Die ganz guten Spieler, die Titel um Titel gewinnen, können das einfach. Für sie sind Endspiele gewöhnliche Partien.
Kann man das lernen? Oder kann der Klub dabei helfen?
Wir können als Verein nur das Umfeld und Vertrauen schaffen, damit die Spieler nicht noch mehr Angst haben und keine zusätzlichen Erwartungen geschürt werden. Letztlich ist jeder selbst verantwortlich. Ich habe das in meinem Buch beschrieben. Du kannst den Esel ans Wasser führen, trinken muss er selbst. Ich glaube auch nicht, dass das eine Altersfrage ist.
Wie gingen Sie mit grossen Partien um?
Ich liebte sie, bin in ihnen aufgeblüht. Sie waren Höhepunkte, meist bin ich dann über mich hinausgewachsen. Natürlich vergeigte ich auch grosse Spiele.
Es geht um Qualität. Aber warum liefern gerade die Leader Jordi Quintillà und Lukas Görtler in solchen Spielen nicht?
Auch das können nur sie beantworten. Aber für mich geht es nicht um einzelne Spieler und es wäre nicht fair, jetzt Jordi und Lukas an den Pranger zu stellen. Wir leben vom Zusammenspiel des Teams, das gemeinsam funktionieren und sich als Schwarm bewegen muss. Dann kann jeder glänzen. In jedem Fall muss jeder Spieler bei seiner Reflexion des Finals davon wegkommen, Gegebenheiten wie Hitze, Anspielzeit, Kunstrasen, zu viel Euphorie oder zu grossen Druck als Grund für seine Leistung zu sehen. Das sind Alibis und bringen dich nicht weiter. Finalspiele sind kein Wunschkonzert, man muss einfach bereit sein. Die Frage ist doch: Warum konnte ich die Anspannung und Nervosität nicht ins Positive ummünzen? Weshalb wurde ich mutlos und ängstlich?
Das ist schwierig.
Ja, superschwierig. Deshalb bin ich auch niemandem böse oder von niemandem enttäuscht.
Auf dem Topniveau geht das vielleicht einfacher. Aber hier in St.Gallen gibt es ein solches Spiel in der Karriere.
Wir reden hier von Topniveau in der Schweiz. Für Profis, die nicht international spielen, gibt es daher weniger Ereignisse, um persönlich in solchen Spielen zu wachsen. Das wäre ein Vorteil der Playoffs: Sie würden sportlich pro Saison mindestens zweimal in diese Alles-oder-nichts-Situation führen. Das könnte helfen, an solchen Aufgaben zu wachsen. Und könnte dazu führen, dass Schweizer Mannschaften generell im Europacup stabiler sind. Ich sehe auch ein Penaltyschiessen nicht als Lotterie. Dort wird der Wettkampf auf die Spitze getrieben und man sieht in einer extrem Situation: Wer bricht, wer bleibt stabil.
Viermal hat der FC St.Gallen zuletzt einen Titel knapp verpasst. Kann das einen Komplex geben?
Wenn man es zulässt, ja. Ich sehe es aber anders: Wir waren viermal so weit, dass nur das i-Tüpfelchen fehlte. Wir haben eine gute Entwicklung hinter uns, waren nahe dran, sind einfach noch nicht so gut und stabil, dass wir es durchdrücken können. Ich sah am Sonntag im Cupfinal nur zwei Mannschaften, der Rest der Schweizer Vereine musste zu Hause bleiben. Das ist eine sehr gute Leistung, ein Erfolg. Ich werde alles dafür tun, dass wir das nochmals erleben. Für einen Erfolg wird es aber auch dann keine Garantie geben, aber das macht einen Final ja so spannend. Wenn man ausschliessen will, dass man ein Endspiel verliert, muss man dafür sorgen, dass man ihn nicht erreicht. Ich aber spiele lieber Finals.
Hätte der FC St.Gallen im Vorfeld für die Mannschaft nicht etwas Dampf wegnehmen müssen?
Wäre es das Puzzleteil für den Erfolg gewesen? Wir können doch als Verein nicht allen Ernstes sagen, dass der Cupfinal nicht so wichtig ist und es total egal ist, wenn wir verlieren. Das wäre unglaubwürdig. Kein Spieler würde uns das abnehmen und sich erleichtert fühlen. Letztlich machen wir die Dinge so, dass sie hoffentlich zum Erfolg führen und im Vergleich zum vergangenen Jahr haben wir vieles verändert. Aber am Ende hat auch das nichts genutzt. So bleibt es dabei: Die 90 Minuten, da unten im Rechteck auf dem Grün, sie entscheiden.
Sind Sie während solcher Partien noch nervös?
Gewiss, und auch bei mir steigert sich das, je grösser das Ereignis ist. Ich wünschte mir, dass wir dieses i-Tüpfelchen gesetzt hätten. Diese Krönung. In der Wahrnehmung von aussen hätte sie viel bedeutet, Goodwill geschaffen, Rückenwind für die weitere Arbeit gegeben, den wir hätten in die neue Saison mitnehmen können. Dieser ist nun abgestellt, der Extra-Boost fehlt. Aber was wir erreicht haben, war viel zu gut, als dass wir uns als Verlierer sehen würden.
Ist es aus Klubsicht ein positiver Aspekt, dass die Interessen anderer Vereine für St.Galler Spieler nach dieser Cupfinal-Niederlage nicht so gross werden?
Man kann es anders sehen: Hätten wir uns für den Europacup qualifiziert, wäre es wohl einfacher gewesen, den einen oder anderen Spieler zu behalten. Oder wir hätten den einen oder anderen Transfer machen können, weil der Spieler hier hätte europäisch spielen können. Ein Sieg hätte viel mehr Vorteile gebracht. Ich bin ja ein Mensch, der stets das Positive sieht. Nicht aber in dieser Niederlage. Da sehe ich nichts Positives.
Schweizweit anerkennt man, wie gut Sie, Trainer Peter Zeidler und auch Matthias Hüppi seit Jahren gemeinsam arbeiten – da geht es nicht um Titel.
Geht es beim FC St.Gallen wirklich um Titel?
Eine gute Frage.
Bei uns geht es darum, jedes Spiel zu gewinnen und zu dominieren und die Zuschauer zu unterhalten.
Wie sieht das St.Galler Kader nächste Saison aus?
Das ist ein rollender Prozess, der während zwölf Monaten stattfindet. Dabei ist es auch relevant, was am Sonntag passiert ist. Jetzt sind wir international nicht dabei, das heisst, wir brauchen ein kleineres Kader.
Besteht denn die Chance, dass Goalie Zigi bleibt?
Er hat einen Vertrag bis 2023. Und darin ist eine Option enthalten. Eigentlich steht er bei uns deshalb noch zwei Jahre unter Vertrag. Viele Kontrakte, die im kommenden Jahr auslaufen, enthalten eine Option, bei der sich bei einer gewissen Anzahl Spiele der Vertrag automatisch verlängert.
Peter Zeidler wirkte nach dem Cupfinal ziemlich geknickt. Bringt er die Energie nochmals auf, um das fünfte Jahr in St.Gallen Vollgas zu geben?
Der Einzige, der das beantworten kann, ist Peter. Ich habe aber keine Zweifel. Klar ist aber auch, dass seine Arbeit in den letzten vier Jahren unglaublich viel Energie gebraucht hat. Viel Energie ist unabdingbar, um diesen Job zu machen. Zudem habe ich Peter nach dem Spiel nicht als geknickt wahrgenommen, dies sieht für mich anders aus. Ich habe ihn enttäuscht und traurig gesehen, er hatte wie alle den Traum, den Titel zu holen.
Wir können uns Sie und Peter Zeidler nur noch als Team vorstellen.
Wir arbeiten sehr gut zusammen, es ist ein Vertrauensverhältnis entstanden. Wir sehen viele Sachen ähnlich, jedoch nicht alles gleich. Aber ich glaube, Peter kann auch ohne Alain arbeiten und erfolgreich sein. Und Alain kann auch ohne Peter arbeiten und erfolgreich sein.
Das tönt nach Trennung.
Nein, das tönt danach, dass wir nicht voneinander abhängig sind. Jeder für sich hat die Fähigkeit, unabhängig vom anderen einen guten Job zu machen.
Liegen für Spieler konkrete Angebote vor?
Ja.
Für wen?
Das kann ich nicht sagen.
Sie haben Ihre Meinung zur Modusänderung angedeutet.
Natürlich gibt es Argumente dafür und dagegen.
Ihre Argumentation für mehr Alles-oder-nichts-Spiele in der Liga tönt grundsätzlich interessant. Aber nur, wenn Ihr Team nicht unangefochten Leader ist.
Man hört immer wieder, dass das sportlich nicht fair sei. Natürlich kann man dieser Meinung sein. Aber man kann eben auch sagen, dass man dadurch den Wettbewerb noch einmal auf die Spitze treibt. Zuerst geht es darum, auf die ersten zwei Plätze zu kommen. Und wenn du Erster bist, musst du in drei Endspielen noch einmal beweisen, dass du der Beste bist. Dann hast du den Wettkampf auf die Spitze getrieben. Dann bist du zu Recht Meister. Und sonst war halt der Zweite besser.
Ist es denn im Fussball nicht anders als im Eishockey: Eine frühe rote Karte zu Beginn kann das Spiel entscheiden.
Dann hat man ein Spiel verloren. Aber man hat immer noch zwei, um sich dann doch noch durchzusetzen. Sportlich sehe ich spannende Ansätze. Weil man jedes Jahr in diesen alles oder nichts Wettbewerb hineingetrieben wird. Ich kenne das aus meiner Zeit in Amerika. Ich fand das cool. Ich hatte solche Alles-oder- nichts-Spiele sehr gerne. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Man kann sich als Sportler weiterentwickeln.
Aber jetzt stellen Sie sich vor: Der FC Zürich ist dem FC Basel meilenweit voraus. Für die Playoffs kommt Basel besser in Form und ein Schlüsselspieler des FC Zürich verletzt sich.
Ich kann dieses Argument nachvollziehen. Und trotzdem: Du hast 20 Punkte Vorsprung und du wirst noch einmal herausgefordert um zu bestätigen, die beste Mannschaft zu sein im direkten Vergleich. Das hat für mich etwas reizvolles als Sportler. Nochmals zu zeigen: Wir sind die bessere Mannschaft und wir haben den Titel verdient.
Der eine Wettbewerb belohnt Konstanz, der andere auf den Punkt da zu sein. Wenn ihr eine Kombination aus beidem wollt, qualifiziert euch für Europa.