Als im Wankdorf zwei Minuten vorbei sind, denke ich mir: Das ist es. Ein besseres Fussballerlebnis werde ich vermutlich für den Rest meines Lebens nicht mehr haben. Und da ist im Spiel noch gar nichts geschehen.
Vor dem Spiel beim Stadion: Unfassbar viele Lugano-Fans. So viele Tessiner hatte es im Cornaredo vermutlich noch nie. Doch so viele Lugano-Tifosi es auch hat – auf jeden kommen drei oder vier Ostschweizer. Das Stadion ist zu grossen Teilen grün-weiss und die Stimmung in beiden Fanlagern voller enthusiastischer Vorfreude. Zwei Underdogs stehen sich gegenüber, beidseits sind die Lust und der Hunger, endlich wieder einmal etwas zu gewinnen, riesig. Wem die Momente vor dem Anpfiff, als die Teams das Feld beschreiten, nicht nahe gehen, der wird in seinem Leben nicht mehr vom Fussballvirus befallen werden.
Als im Wankdorf vier Minuten vorbei sind, geht Lugano schon mit 1:0 in Führung. Sollte es wieder nichts werden mit einem St.Galler Cupsieg? Auf dem Weg nach Bern merke ich, wie mich schon ewig kein Fussballspiel mehr so sehr beschäftigt hat. Vielleicht hat es auch mit der langen Corona-Pause zu tun. Ich schwanke zwischen Zuversicht und dem Gefühl, das jeder, der den FCSG schon so viele Jahre begleitet, kennt: dass es unser Klub eigentlich noch jedes Mal verpasst hat, wenn er etwas hätte erreichen können.
Die Wucht des Espenblocks verdrängt diesen Gedanken nach dem frühen Rückstand. Kurz nachdem der Ball im Netz liegt, peitscht die Fankurve die St.Galler Mannschaft schon wieder nach vorne, macht ihr Mut.
«Fiiret dä Moment» heisst es zur Melodie «Allez allez», welche die Fans des FC Liverpool bei ihrem Sieg in der Champions League populär gemacht haben, und die nun auch minutenlang im Wankdorf gesungen wird. Darin äussert sich auch die Hoffnung, dass die Spieler die Geister der Vergangenheit nicht an sich heranlassen. Sich nicht von der eindrücklichen Kulisse und der grossen Gelegenheit beeindrucken lassen. Sondern das machen, was sie schon als Buben am liebsten machten: tschutten, im Moment leben und diesen geniessen.
Fussball wird in diesem Cupfinal auch gespielt. Was auf dem Rasen geschieht, kann mit der fantastischen Atmosphäre neben dem Rasen nicht mithalten. Nach 21 Minuten glückt St.Gallen der Ausgleich, auch die Espen treffen nach einem Standard. Und als man sich schon in der Halbzeitpause wähnt, geht Lugano erneut in Führung, die St.Galler Verteidigung macht keine gute Falle. Es ist ein laues Spiel. Der Zuständige des Verbands, der akribisch die Pyros beider Fanlager mit Fotos und Notizen festhält, hat wesentlich mehr zu tun als die Reporter, die Torchancen aufschreiben.
Von St.Gallen kommt zu wenig, zumal Lugano seine Stärken in der Defensive hat. Zehn Minuten nach der Pause bringt St.Gallens Stürmer Kwadwo Duah mit einem übermotivierten Foul an der Seitenlinie endlich ein wenig Emotion ins Spiel. Vielleicht ist das ein Moment, der nochmals einen Ruck durch die Mannschaft gehen lässt.
Man wird es nie herausfinden. Denn nach der Aktion vergehen nur wenige Minuten, da schiesst Lugano nach einem blitzsauberen Konter das 3:1. Direkt vor der Tessiner Fankurve, die nun kocht, wie sie wahrscheinlich nicht einmal kochte, als Lugano damals im UEFA-Cup den grossen Nachbarn Inter Mailand rauskegelte.
Auf der anderen Seite ist es kaum noch mehr als die Macht der Gewohnheit, «Hopp Sanggalle» zu rufen. Nichts, wirklich gar nichts deutet darauf hin, dass der FC St.Gallen in diesem Final noch etwas zu melden hat. Zu souverän tritt Lugano auf, zu harmlos ist St.Gallen an diesem Nachmittag.
Zwanzig Minuten vor dem Ende ist endgültig jedem im Stadion klar, wer den Pokal in die Höhe stemmen wird. Die Konfetti-Kanone kann getrost mit schwarz-weissen Papierschnipseln gefüllt werden. St.Gallen ist hinten schon offen wie die Grenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz, mit dem 4:1 entscheidet Maren Haile-Selassie die Partie.
St.Gallens Niederlage im Cupfinal 1998 war episch, nach 2:0-Führung, verschossenem Penalty und schliesslich im Penaltyschiessen war es Lausanne unterlegen. Die Niederlage im Cupfinal 2021 gegen Luzern war das Ergebnis einer schlechten Leistung in einem seltsamen Spiel vor leeren Rängen wegen der Corona-Pandemie.
2022 wiederholte sich diese Nichtleistung. Als es darauf ankam, war von den Tugenden, die den FC St.Gallen unter Trainer Peter Zeidler so stark machen, nichts zu sehen. Dass dieser im Tor auf Lukas Watkowiak statt Stammgoalie Lawrence Ati Zigi setzte, war übrigens kein Faktor. Auch mit Zigi hätte St.Gallen verloren.
Es war ein schöner Nachmittag mit einem Cupsieger, dessen Erfolg völlig verdient war. Ich hoffe sehr, dass ich mich nach zwei Minuten getäuscht habe und ich eines Tages ein noch besseres Fussballerlebnis haben werde. Vielleicht sogar einmal einen Cupfinal mit dem Sieger FC St.Gallen. Aber gerade jetzt habe ich da meine Zweifel.