Wieso ist die Schweiz im Ski-Weltcup derzeit erfolgreicher als Österreich?
Hans Flatscher: Das ist vielschichtig. Man hat in den vergangenen zehn Jahren, die es braucht, um eine gute Mannschaft aufzubauen, vieles richtig gemacht. Man hat im Staff viel Kontinuität geschaffen. Man hat gute Trainer engagiert. Swiss Ski hat ein hohes Standing erreicht, weshalb es die vielleicht attraktivste Adresse für die besten Trainer ist. Und wir haben Athletinnen und Athleten, die gewillt sind, den nötigen Einsatz zu leisten, den es braucht, um erfolgreich zu sein.
Ist es für Sie als Österreicher speziell befriedigend, Ihr Heimatland abgehängt zu haben?
Nein, da stehe ich längst drüber. Es gab vielleicht Zeiten, in denen mir das wichtiger war. Ich bin ja nun schon über zwanzig Jahre bei Swiss Ski.
Sind Sie heute mehr Schweizer als Österreicher?
Nein. Aber im Skisport bin ich mit der Schweiz absolut verbunden.
Bringt Sie der ewige Vergleich mit Österreich, der öffentlich geradezu zelebriert wird, zum Schmunzeln?
Das nicht. Ich halte diesen sportlichen Konkurrenzkampf für eine Art Kulturgut. Und ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass es so bleibt. Denn dieser Kampf wird auf einer guten Ebene ausgetragen und treibt beide Lager zu Höchstleistungen an.
Sie sagten, in der Schweiz hätte man vieles richtig gemacht. Ist der Umkehrschluss also, dass in Österreich vieles falsch lief?
Wenn eine derart starke Mannschaft – die Männer sorgten im Dezember 1998 mit einem Neunfachsieg am Patscherkofel für ein historisches Ereignis – ins Straucheln kommt, sind mehrere Faktoren dafür verantwortlich. Ich war ja damals im österreichischen Team als Trainer dabei. Meine Erkenntnis lautet – und darauf achte ich bei uns besonders stark: Es braucht Nachschub von unten. Wenn man oben erfolgreich ist, braucht es unten noch grössere Anstrengungen, um später die Lücken im Weltcup schliessen zu können, die durch Rücktritte entstehen.
Die Schweiz lebt doch hauptsächlich von den Ausnahmetalenten Lara Gut-Behrami und Marco Odermatt!
Aber die Nationenwertung gewinnt man nicht nur mit zwei Athleten. Dafür braucht es eine Breite. Und die haben wir. Letzte Saison hatten wie sieben verschiedene Fahrerinnen und Fahrer, die Weltcuprennen gewonnen haben. Natürlich haben wir zwei Ausnahmekönner. Man kann sogar sagen drei, denn Loïc Meillard zähle ich auch dazu. Wir sind gut aufgestellt. Aber wir müssen bedacht mit den Athletinnen und Athleten umgehen. Es ist nicht so, dass die Pipeline überfüllt ist.
Gerade bei den Frauen scheint das der Fall zu sein. Die Teamleaderinnen befinden sich eher in der Schlussphase der Karriere. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Sorgen nicht. Aber wir müssen alle erdenklichen Massnahmen ergreifen, damit wir die Lücken schliessen können, die in den nächsten Jahren entstehen werden. Das wird kein Selbstläufer.
Rückblickend scheint Marcel Hirscher Fluch und Segen für Österreich gewesen zu sein. Segen, weil er unfassbar viel gewonnen hat. Fluch, weil man sich hinter ihm verstecken konnte.
Da haben Sie wohl recht. Natürlich lag der Fokus viele Jahre auf Hirscher. Verständlich, wenn einer acht Mal in Serie den Gesamtweltcup gewinnt. Bei uns ist die Situation mit unserem Überflieger etwas anders. Marco ist nicht nur als Athlet, sondern auch als Mensch ein riesiges Geschenk. Das ist pures Glück. Denn Odermatt haben nicht wir so gemacht, wie er als Mensch ist.
Sie sprechen damit seinen Charakter und seinen Einfluss auf ein Team an, der wesentlich grösser ist, als es bei Hirscher der Fall war?
Ja. Hirscher ist Hirscher. Und Odermatt braucht das Team. Das hilft ihm auch, sich richtig zu entfalten. Das ist für uns als Verband ein Glück. Und wir tun alles dafür, um ihm die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen.
Und man hat das Gefühl, dass sich auch die Kollegen dank Odermatt im Team entfalten können. Einzig bei Loïc Meillard scheint das nicht funktioniert zu haben.
Nein, das denke ich nicht. Meillard ist ein anderer Typ als Marco. Loïc ist sehr souverän, steht über den Dingen. Es gibt nicht viele Athleten wie ihn, die zu Saisonbeginn derart vom Pech verfolgt sind (zweimal in der letzten Saison den Ski verloren; Anm. d. Red.), aber dranbleiben und gegen Ende der Saison zum Triumph zurückkehren. Das zeigt: Meillard kann den Fokus auf sich richten. Er macht vielleicht wenig Show, wenig Aufsehen um seine Person. Aber er ist eine grossartige Persönlichkeit.
Sie führen auch eine Athletin, die als eine der schwierigsten im Zirkus beschrieben wird. Wie managen Sie Lara Gut-Behrami?
Das wirkt für Aussenstehende schwieriger, als es wirklich ist. Was Lara braucht, ist Klarheit, Klarheit und nochmals Klarheit. Sie will klare Ansagen, und dann darf man aber keinen Millimeter davon abweichen. Das Wort zählt bei ihr. Wenn man das so berücksichtigt, funktioniert die Zusammenarbeit wunderbar. Klar, sie ist fordernd. Aber immer in einer Art fordernd, die für mich nachvollziehbar ist.
Fordernd also im Sinn der Sache. Wünschen Sie sich etwas mehr Lara Gut-Behrami bei anderen Athletinnen?
Das kann man so nicht auf andere Athletinnen runterbrechen. Lara Gut-Behrami ist eine einzigartige Fahrerin. Sportlerinnen, die so erfolgreich sind wie sie, heben sich häufig auch in ihrer Art vom Rest ab. Aber man kann keiner anderen Fahrerin sagen: Du musst so sein wie Lara. Die Superstars muss man häufiger machen lassen. Die haben ihre Eigenheiten. Für einen Trainer geht es eher darum, sie in ihrer Individualität zu unterstützen, statt sie in eine Schablone zu pressen.
In Sölden wirkte Lara Gut-Behrami sehr emotional, als Sie ihren Startverzicht erklärt hat. Wer wollte, hörte aus ihren Worten, dass sie bald ihren Rücktritt erklären wird. Sind Sie auch zusammengezuckt?
Gelassen war ich definitiv nicht. Aber wenn du die Geschichte dahinter kennst, kommst du zum Schluss: Das war ein reifer Entscheid von ihr. Ich spürte aber in ihren Worten auch, dass die Leidenschaft in ihr noch brennt. Dass sie immer noch gerne Rennen fährt. Es ist mir ein grosses Anliegen, ihr ein Umfeld zu bieten, damit ihr das Skifahren möglichst viel Freude bereitet. Denn solange sie die Freude hochhalten kann, fährt sie gut. Und solange sie gut fährt, macht sie weiter. Aber wenn es für sie mal nicht mehr stimmt, wird sie nicht viel Federlesen machen.
Rechnen Sie für die Winterspiele 2026 noch mit Lara Gut-Behrami?
Diese Rechnung mache ich überhaupt nicht, denn der Fokus muss auf dem Jetzt liegen. Wir müssen dafür sorgen, dass Jetzt für sie alles stimmt. So besteht die grösste Chance, dass sie 2026 noch immer fährt.
Bei Frauen wird im Gegensatz zu Männern, die auch mit 50 noch eine Familie gründen können, in diesem Alter auch die Familienplanung zum Thema.
Das ist sicher so, aber auf das eine oder andere Jahr früher oder später kommt es auch bei den Frauen nicht an. Und ich glaube, so wird auch Lara Gut-Behrami denken und das Thema handhaben. Der entscheidende Faktor bei ihr, ob sie aufhört oder nicht, wird der Faktor Freude sein – und wohl nicht jeden Morgen eine eindeutige Antwort darauf finden. Aber etwas ist klar: Wenn Lara Gut-Behrami aufhört, wird das nicht spurlos an uns vorbeigehen. Sie wird uns fehlen, denn es wird keine Fahrerin ihren Posten einfach so übernehmen. Sie ist seit Jahren eine einzigartige Leistungsträgerin.
Ebenfalls mit vielen Emotionen verbunden ist die Familiengeschichte von Wendy Holdener mit dem Krebstod ihres Bruders und Vertrauten Kevin. Wie kann Swiss Ski sie unterstützen?
Wir haben mit Jörg Roten einen Trainer, der all jene Trainings macht, welche Wendy neben dem Team braucht. Es hilft ihr zu wissen, dass wir die Ressourcen haben, wenn sie beispielsweise zwischendurch nach Hause muss, um auch dort für sie Trainings zu organisieren.
Ist Jörg Roten auch noch ein wenig Psychologe?
Das nicht, aber er ist die richtige Person für Wendy. Sie mag es, wenn man in Bezug aufs Training die Dinge beim Namen nennt. Sie hat das Vertrauen in Roten. Und wir sind darauf vorbereitet, ihr die nötige Flexibilität zu ermöglichen, wenn sie Tage hat, an denen sie der Verlust ihres Bruders stark belastet. An solchen Tagen muss der Trainer auch mal sagen, dass es kein Skitraining gibt.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen in Ihrem Job?
Die Aufgaben sind enorm umfangreich. In meinem Job habe ich sehr viel mit Menschen zu tun. Allein bei den Alpinen sind es aktuell über 100 Betreuerinnen und Betreuer. Und wenn viele Menschen zusammenarbeiten, gibt es immer irgendwo etwas, das gelöst werden muss. Die Kunst ist, ihre Aufgaben und Befindlichkeiten irgendwie zu verbinden, sodass ein roter Faden entsteht, der all die verschiedenen Teams und Trainingsgruppen verbindet. Es ist wichtig, am Puls zu sein, wenn ein Thema irgendwo zu köcheln beginnt, oder es idealerweise so gut zu antizipieren, dass man es bereits im Voraus lösen kann.
Ein Erfolgsfaktor ist der Nachwuchs. Skiorte in tiefen Lagen werden immer mehr verschwinden. Wie bringt man künftig Kinder auf den Schnee?
Wir arbeiten bei Swiss Ski aktuell an der Vision 2050. Die zentrale Frage ist, wohin sich der Schneesport entwickelt. Kinder auf den Schnee zu bringen, ist ein wichtiger Faktor. Wir betreiben gerade im Bereich Breitensport einen grossen Aufwand, aber es wird in Zukunft zweifellos eine Herausforderung. Ich glaube, Skifahren ist ein derart einzigartiges Erlebnis, das es immer geben wird.
Wie definieren Sie einzigartig?
In welcher anderen Sportart kann die gesamte Familie den ganzen Tag lang das gleiche machen und geniesst miteinander eine schöne Zeit – und alle sind am Abend zufrieden? Das erlebt man nur beim Skifahren. Uns muss es gelingen, den Leuten diese Einzigartigkeit aufzuzeigen.
Aber der Weg ins Skigebiet wird mit dem Klimawandel immer weiter – gerade für Kinder.
Unsere Kinder waren nie zufriedener als nach einem Tag auf der Piste. Auch wenn sie dafür eine Stunde im Auto sitzen mussten. Aber natürlich liegt es aktuell auch an den Skigebieten, im Bereich der Beschneiung zu investieren.
Ist Skifahren nicht auch teuer?
Es ist schon teuer.
Zu teuer?
Wenn man bedenkt, was die Skigebiete alles investieren, damit wir gut Skifahren können, ist es zweifellos nicht zu teuer. Wenn man die Kosten aber auf eine Familie runterbricht, ist es teuer. Aber es hängt auch davon ab, wo man mit den Kindern hingeht. Es gibt je nach Ort preislich enorme Unterschiede.
Sollte man Skifahren subventionieren?
Ich wäre sofort dabei. (Lacht.)
Wird sich der Ski-Weltcup in Länder verschieben, die mehr Schneesicherheit garantieren? Im Iran soll es beispielsweise hoch gelegene Destinationen geben.
Das glaube ich nicht. Was haben wir nicht schon probiert! Während Jahren hiess es, wir müssen mit dem Weltcup Japan erobern. Es hat nicht gefruchtet. Der Ski-Weltcup ist und bleibt in den Alpenländern. Hier sind wir verankert, hier bewegen wir die Menschen. Muss man überhaupt noch grösser werden oder wollen wir uns nicht lieber darauf fokussieren, das gut zu machen, was wir schon haben? Wenn es beispielsweise Adelboden, Wengen oder Kitzbühel im Ski-Weltcup nicht mehr gäbe, dann hätten wir ein Problem. (riz/aargauerzeitung.ch)