Wie hat sich ihr Leben seit dem Rücktritt vor einem Jahr verändert?
Daniela Ryf: Schon ziemlich stark. Es gibt gewisse Routinen, die ich mir bewahren konnte. Zum Beispiel, dass ich jeden Morgen Sport mache. Dann fühle ich mich viel präsenter, gehe aktiver und besser durch den Tag. Das brauche ich für den Kopf und damit ich mich wohler fühle in meinem Körper.
Zu Hause oder draussen?
Beides. Wenn es geht, dann lieber draussen, für eine halbe Stunde Joggen im Wald. Wenn es regnet, fahre ich auch einmal auf der Rolle. Als Sportlerin habe ich die Erfahrung gemacht, wie gut sich das anfühlt. Da habe ich eine kleine Abhängigkeit entwickelt.
Was für eine Abhängigkeit?
Vom guten Gefühl, das man durch Bewegung bekommt. Es müssen nicht mehr zwei Stunden sein, aber eine halbe Stunde pro Tag, das habe ich mir vorgenommen. Das reicht mir schon, um mich wohler und wacher zu fühlen. Sonst habe ich das Gefühl, ich stehe neben den Schuhen.
Auf wie viele Stunden Bewegung kommen Sie pro Woche?
Zwischen fünf und acht Stunden in der Woche, manchmal auch 10.
Und früher?
Schon bis zu 35 Stunden. Heute mache ich Sport, um mich wohlzufühlen, nicht weil ich muss. Wenn ich es morgens nicht schaffe, fahre ich abends in Zürich mit dem Velo auf den Üetliberg oder hier in Solothurn auf den Balmberg. Für richtig lange Touren fehlt mir die Zeit. Und auch die Lust. Ich mag es, am Wochenende nichts zu machen und zu geniessen.
Schwimmen Sie eigentlich noch ab und zu?
Nein, wirklich fast nicht mehr. Vor ein paar Monaten war ich mit einer Kollegin schwimmen – und war langsamer. Dabei hat sie erst vor einem Jahr mit dem Schwimmen angefangen (lacht). Ich habe wirklich keine Lust mehr, mit Menschen in einem Pool zu schwimmen, weil ich das schon so oft gemacht habe. Und immer hat irgendjemand reklamiert. Ich würde zu sehr spritzen oder zu schnell schwimmen. Das muss ich nicht mehr haben (lacht). Im Wald habe ich meinen Frieden.
Haben Sie auch einen neuen Sport für sich entdeckt?
Noch nicht, nein. Kürzlich war ich mit Anouk Vergé-Dépré Beachvolleyball spielen. Ich habe noch viel vor: Tennis und Padel zum Beispiel. Velofahren und Laufen bleiben die Sportarten, die mir guttun. Das hilft mir, auf andere Gedanken zu kommen. Mein Kopf ist heute viel mehr gefordert. Ich merke, dass ich manchmal am Limit bin, mir das Denken irgendwann schwerfällt und ich das Gefühl habe, dass mir der Kopf fast platzt, weil ich so viele Projekte und Gedanken habe. Dazu ist mir Anfang Jahr noch ein doofes Missgeschick passiert…
Erzählen Sie.
Beim Aussteigen aus dem Auto habe ich mir blöderweise den Kopf gestossen und mir dabei eine Hirnerschütterung zugezogen. Zunächst dachte ich, es sei nicht schlimm. Doch am Tag darauf konnte ich fast nicht mehr denken und konnte mich keine fünf Minuten konzentrieren. Das ging etwa sechs Wochen so. Das war eine heftige Erfahrung.
Letztlich haben Sie Ihre Karriere auch wegen einer Entzündung am Steissbein beendet. Spüren Sie irgendwelche Spätfolgen?
Es stimmt. Ich habe mit Schmerzen aufgehört. Mir war aber immer klar, dass es eine Entzündung ist, die ich auskurieren muss. Das dauerte ziemlich lange, bis weit in den Oktober hinein. Es hat mir geholfen, loszulassen, dass ich während des Ironman Hawaii immer noch verletzt war. Mit Therapie habe ich das aber in den Griff bekommen und habe seither keine Schmerzen mehr, was sehr schön und nicht selbstverständlich ist. Ich habe meinem Körper schon viel abverlangt, aber ihn nie missbraucht. Mental brauchte ich schon mehr Abstand vom Triathlon und vom Sport.
Sie haben kürzlich gesagt, es sei schon verrückt, wie schnell dieses Jahr seit ihrem Rücktritt vergangen ist. Können Sie das präzisieren?
Als Sportlerin war mein Leben langsamer. Du hast so viel Zeit, dich zu erholen. Es ist Teil des Jobs, auf der Couch zu liegen. Jetzt muss ich mir aktiv vornehmen, mir Ruhe zu nehmen und nichts zu tun. Das soll nicht despektierlich klingen, aber der Profisport ist manchmal auch langweilig. Ich machte ja nichts anderes als schlafen, essen und trainieren. Ich hatte schon sehr viel Zeit, nachzudenken, was auch nicht immer ein Vorteil war (lacht).
Wie fühlt sich dieses neue, volle Leben heute für Sie an?
Ganz ehrlich? Manchmal, als wäre ich mit 480 auf der Autobahn unterwegs. Es ist eine totale Überreizung, weil ich es nicht gewohnt war, dass so viele Dinge parallel passieren. Inzwischen gewöhne ich mich aber daran und es entsteht ein gewisser Alltag mit Repetitionen. Manchmal frage ich mich, wo die Zeit geblieben ist. Am Anfang musste ich viel Lehrgeld zahlen.
Inwiefern?
Früher als Sportlerin dachte ich, es sei kein Problem, an sieben Tagen zu arbeiten. Ich habe ja auch jeden Tag trainiert. Nun habe ich gemerkt, dass der Kopf Pausen braucht. Irgendwann hast du keine Lust mehr, zu streiten, zu pushen, Dinge voranzutreiben. Aber es fühlt sich gut an, weil ich bestimmen kann, welchen Themen ich mich widmen möchte.
Welche Projekte bestimmen denn Ihren Alltag?
Viele (lacht). Zum einen bin ich beim Start-up «Muuvr». Das ist eine App, die dazu animieren soll, sich zu bewegen und ein aktives Leben zu führen. Dazu bin ich bei der Velomarke «Felt» für die Schweizer Händler zuständig. Bei Red Bull bin ich weiterhin bei Events involviert und halte Vorträge. Dazu wirke ich bei zwei weiteren Apps mit.
Nämlich?
Einerseits bei «Fuelin», wo es um Ernährungstipps geht. Ich wirke dort bei Podcasts mit, oder steuere auch einmal ein Rezept bei. Andererseits «HumanGo», wo man Trainingspläne erstellen kann, die auf jeden individuell zugeschnitten sind. Die Einheiten sind von mir inspiriert, werden dann aber von einer Künstlichen Intelligenz angepasst. Die App funktioniert mit einer Sprachassistenz. Sie können etwa entscheiden, ob die Stimme eher wohlwollend ist und motiviert, oder ob sie sich von einem Drill Sergeant anschreien und quälen lassen (lacht).
Fühlen Sie sich heute freier, weil die feste Struktur durch den Sport wegfällt, oder fühlen Sie sich mehr gefangen als zuvor, weil Sie im Alltag mehr verschiedene Termine haben?
Beides. Wenn ich früher viel um die Ohren hatte mit Sponsoren und Terminen, hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich noch trainieren muss. Das war manchmal ein grosser Stress und Druck, der nun wegfällt. Das geniesse ich enorm. Andererseits mache ich mir selber immer noch viel Druck.
Wie früher als Sportlerin?
Egal, was ich mache: Ich komme immer wieder an den Punkt, an dem ich mich ermahnen muss, es gemütlicher zu nehmen. Als Spitzensportlerin hat man wohl einfach diese Veranlagung. Als Sportlerin war das Maximum begrenzt auf fünf oder sechs Stunden Training pro Tag. Nun bei der Arbeit ist das schwammiger und endlos. Man kann immer noch mehr tun. Ich muss noch lernen, damit umzugehen. Und klar: Das ist nicht ganz so befriedigend wie ein Training.
Letztlich hörten Sie auch deshalb auf, weil sie Ihre eigenen Erwartungen nicht mehr erfüllen konnten. Wie gehen Sie im Berufsalltag damit um?
Als Sportlerin fühlte ich mich viel mehr ausgeliefert, das fällt nun weg. Wenn ich heute einen weniger guten Tag habe, fällt das weniger ins Gewicht. Diese Freiheit habe ich. Ich muss und will nicht jeden Tag zehn Stunden arbeiten. Gewisse Dinge, wie den Sport am Morgen, lasse ich mir nicht nehmen. Es ist einfach ein Balancieren zwischen vielen verschiedenen Projekten.
Würden Sie sich manchmal wünschen, es wäre nur ein Job mit fixen Arbeitszeiten, der ihnen klare Leitplanken gibt?
Das würde ich nicht wollen.
Das überrascht uns nicht.
Freiheit bedeutet Selbstverantwortung, was mir entspricht. Andererseits setzt auch niemand Grenzen. Auch damit muss ich noch einen guten Umgang finden. Mir bereitet Spass, was ich mache. Ich stehe morgens auf und habe Lust, Dinge anzupacken. Am Ende meiner Karriere als Sportlerin habe ich schon gemerkt, dass mir die Lust fehlt. Wenn ich heute zu einem Meeting fahre, denke ich mir manchmal: Ich bin froh, muss ich jetzt nicht trainieren. Es war die richtige Entscheidung, aufzuhören und ich bin immer noch sehr glücklich damit.
Wie hat sich der Rücktritt auf Ihr Privatleben ausgewirkt?
Das ist ein grosser Gewinn für mich. Wir können jetzt problemlos vier Tage etwas zusammen unternehmen, egal wann im Jahr. Wir waren im Sommer mit Freunden und Partnern im Burgund. Das waren meine ersten Ferien seit einer Ewigkeit im Sommer. Sonst standen dann immer die wichtigsten Trainings und Wettkämpfe an. Das geniesse ich enorm.
Zuletzt waren Sie mit der Familie ihrer Partnerin in den Bergen, wie war das?
St. Moritz einmal ganz anders zu erleben, war speziell. Sonst war ich dort immer mit dem Velo unterwegs, auf der Laufbahn oder in der Schwimmhalle. Jetzt fuhren wir mit dem achtjährigen Göttibuben meiner Freundin zum Morteratschgletscher. Das war sehr herzig.
Haben Sie nicht den Impuls, so schnell wie möglich zu fahren, wenn Sie auf dem Velo sitzen?
Ich mag es, den Körper zu spüren. Die sportliche Herausforderung fehlt mir erstaunlich wenig. Ich kann es enorm geniessen, gemütlich zu fahren, das mit einem Mittagessen zu verbinden, zum Kaffee anhalten und Fotos machen. Früher ging das nicht. Velofahren war mein Job, da kann ich nicht noch zum Käfelen anhalten (lacht).
Also hat der Rücktritt ihrer Beziehung gutgetan?
Ich glaube, das hatte wenig Einfluss. Ich habe nicht deutlich mehr Zeit, bin aber flexibler. Ich hatte schon vorher viele Freiheiten, wo und wie ich trainiere. Das half im Privatleben enorm.
Trotzdem dauerte es Jahre, bis Sie ein Geschenk an Ihre Mutter einlösen konnten…
Stimmt. Auf den 60. Geburtstag haben mein Bruder Joel und ich ihr eine gemeinsame Reise geschenkt. Das Problem war: Ich machte Triathlon und hatte im Sommer kaum Zeit. Und er spielte im Winter Eishockey. Jetzt wurde unser Mami pensioniert und wir haben die Chance gepackt, sind nach Schweden gefahren. Es war höchste Zeit. Mit meinem Bruder war ich auch noch in Bordeaux. Ich schenke gerne gemeinsame Zeit. Viel lieber als etwas Materielles.
Kürzlich haben Ihre Freundin und Sie Jahrestag gefeiert. Gibt es Pläne, zusammenzuziehen?
Für uns passt es so, wie es ist. Ich habe in Günsberg ein Haus gebaut, wo ich mich wohl fühle. Meine Freundin hat eine Wohnung in Zürich. Wir geniessen es sehr, zwischen Stadt und Land wechseln zu können. Im Moment gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern. (bzbasel.ch)
Danke dafür!