Borussia Dortmunds Trainer Lucien Favre hat mit 2,02 Punkten einen besseren Punktedurchschnitt beim BVB als der geliebte Meistercoach Jürgen Klopp, der lediglich auf 1,90 Zähler kommt. Trotzdem steht der Schweizer in der Kritik, und das nicht erst seit dem 0:4-Debakel gegen Bayern München sowie dem 3:3 gegen den SC Paderborn. Vor allem die BVB-Fans fremdeln mit Favre. Selbst wenn Borussia Dortmund gestern gegen den FC Barcelona (1:3) gewonnen hätte, wäre die Trainer-Diskussion weitergegangen.
«Dass er irgendwann in Dortmund geliebt wird, glaube ich nicht», sagt Sascha Roolf im Interview mit watson. Der 41-Jährige schreibt seit 14 Jahren für das grösste BVB-Fanzine «Schwatzgelb.de» und weiss, wie die Schwarz-Gelben ticken. Er erklärt aus Sicht der Fans, warum die BVB-Anhänger mit Favre wohl niemals so richtig warm werden.
Der Schuldige für die Krise beim BVB ist für viele Fans der Trainer. Warum ist der Zweifel an Lucien Favre so gross?
Sascha Roolf: Von Anfang an habe ich mir die Frage gestellt: Passt der Favre-Fussball zu Borussia Dortmund? Autor Christoph Biermann hat das mal sehr gut entschlüsselt, als er über den Expected-Goals-Wert von Favre sprach.
Der Wert misst die Wahrscheinlichkeit eines Tores bei einer Torchance und bestimmt die «zu erwartenden Tore».
Genau. Und Favre hat mit seinen Mannschaften mehr Tore und weniger Gegentore erzielt, als von diesem Wert erwartet. Dahinter steckt, dass Favre so lange den Ball laufen lassen will, bis eine sehr gute Möglichkeit zum Torabschluss gefunden wird. Dem Gegner wiederum überlässt er den Ball sehr gerne und geht ihn nicht aggressiv an, sondern versucht ihn in Räume zu lenken, die ungefährlich sind. Da habe ich mir schon gedacht, ob das der Fussball ist, den man dem Dortmunder Publikum anbieten kann.
Wie meinst du das?
Viele Fans kommen damit nicht zurecht, dass man dem Gegner den Ball überlässt und weder aggressiv auf den Mann geht, noch den Ball haben will.
Wonach sehnen sich die Dortmunder Fans stattdessen?
Die BVB-Fans wollen vor allem bei Heimspielen eine aktive Mannschaft sehen. Sie wollen, dass wir nach einem Tor auf das zweite gehen und nicht, dass wir uns zurückziehen und den Gegner kommen lassen. In Ansätzen hat das Team das auch immer wieder gezeigt, aber eben sehr selten. Die Passivität passt nicht zum Kader.
Sondern?
Wir haben mittlerweile mit einem Wert von 640 Millionen Euro den zweitteuersten Kader der Liga. Das impliziert für mich auch die Forderung nach einem dominanteren Spielstil. Nach Ballbesitz, wo du eine Mannschaft auf dem Platz siehst, die den Ball hat und demonstriert: Wir bestimmen das Spiel. Favre will zwar auch das Spiel kontrollieren, aber dafür muss er nicht den Ball haben. Er wartet ab, bis er zugreifen kann. Das passt aber nicht zu uns, weil wir auch nicht offensiv genug spielen.
Die Offensive kann eigentlich als Prunkstück des Kaders bezeichnet werden …
Ja, durch die Einkäufe im Sommer hat man demonstriert, dass man sehr viel Wert auf die Offensive legt. Julian Brandt und Thorgan Hazard spielen dort, Nico Schulz ist Verteidiger mit Zug nach vorne. Mats Hummels ist auch bekannt dafür, dass er ein Spiel eröffnen kann. Alles ist ausgelegt für ein Spiel nach vorne. Für mich ist es also ein Widerspruch, dass ein Team gekauft wurde, was im Angriffsdrittel seine Stärke hat, aber man einen Trainer hat, der in erster Linie auf Kompaktheit und Stabilität setzt. Das passt nicht.
Die Fans wollen also ein Spektakel?
Nicht zwingend, aber beim Klub darf man sich nicht wundern, dass die Zuschauer das ein wenig erwarten. Beim BVB hat man dieses Selbstbild in den vergangenen Jahren entwickelt: Da wurde Adrenalin- und Vollgasfussball beworben. Das wurde als Marketing-Image aufgebaut. Die Erwartungen sind nachvollziehbar.
Während du sehr stark auf die Taktik blickst, hadern viele Fans im Stadion vor allem an der fehlenden Emotionalität von Favre an der Seitenlinie. Hat es ein zurückhaltender Typ wie er zusätzlich schwer bei den BVB-Fans?
Ich glaube, dass das durch Jürgen Klopp nachhaltig versaut wurde, um es mal so auszudrücken. Klopp war in dem Sinne das Rundum-Sorglos-Paket als Trainer, aber auch als Entertainer. Der ist an der Seitenlinie mitgegangen und hat die Leute mitgerissen. Das war vor Klopp nie ein grosses Thema. Hitzfeld war ja auch nie jemand, der an der Seitenlinie explodiert ist, aber dem hat niemand vorgeworfen, dass er nicht emotional genug ist. Dass man das Favre vorwirft, ist ein Problem, das aus dem Kontrast zu Klopp entstanden ist.
Wird dieses «Klopp-Problem» den BVB noch einige Jahre begleiten?
Ja, aber das ist grundsätzlich auch nicht abwegig. Das hatten viele Mannschaften mit prägenden Trainern: Werder Bremen mit Otto Rehhagel, Manchester United mit Sir Alex Ferguson.
Kann Favre die BVB-Fans überhaupt noch überzeugen?
Ich halte es für schwierig. Der Spielstil, den Favre bevorzugt, kann nur überzeugen, wenn man ordentliche Ergebnisse holt. Ob es tatsächlich reicht für Favre, weiss ich nicht. In der derzeitigen Konstellation zwischen Kaderzusammenstellung und dem, was Favre will, ist es schwierig, das Optimum wirklich herauszuholen. Das sieht man an den Auftritten. Bei einem Meistertitel würde man Favre respektieren. Dass er irgendwann in Dortmund geliebt wird, glaube ich aber nicht. Ein ähnlich prägender Trainer wie Jürgen Klopp wird er nie …
Wie stark ist die Skepsis im Stadion zu spüren?
Das Standing von Favre hat in den letzten Spielen so gelitten, dass man schon spürt, dass die Fans auf die schwächeren Situationen sehr stark achten und reagieren. Wenn nicht das Tempo aufgenommen wird oder mal ein verunglückter Rückpass stattfindet, kommt sehr schnell Rumoren auf. Favre hat kaum noch Kredit bei den Fans. Es würde nur eine Serie guter Spiele noch helfen.
Dabei ist Favre natürlich nicht für alles verantwortlich, aber der Trainer gilt schnell als Sündenbock.
Viele haben sich auf Favre natürlich eingeschossen. Durch den ganzen Fokus auf ihn fällt natürlich unter den Tisch, dass wir gerade sehr viele Spieler in einer Schwächephase haben: Reus, Akanji, Brandt, Sancho. Da lastet man Favre zu viel an, das liegt auch an den Spielern. Favre steckt natürlich auch in einem Dilemma: Die Spieler spielen schlecht, aber die Kritik geht gegen ihn, weil er ein schlechtes Standing hat. Es gibt also eine Kritik am Trainer, dass er die Leistung der Spieler verbessern muss.
Waren die Meisterschaftsaussagen durch die Vereinsführung im Sommer auch ein Fehler?
Wir wurden Zweiter in der vergangen Saison und haben viel Geld ausgegeben im Sommer, dann muss man zwangsläufig die Meisterschaft fordern. Ich fand in der vergangenen Spielzeit sogar, dass man zu lange gewartet hat mit der Forderung. Aber klar: So etwas fällt dir jetzt bei Niederlagen natürlich auf die Füsse.
Was würdest du Favre raten, damit er noch Trainer bleibt?
Ich würde ihm raten, dass er seinen Spielstil anpasst, auf das zweite Tor geht und Borussia Dortmund wieder aktiver spielen lässt. Ich glaube, das Team selbst mag das abwartende Spiel auch nicht. Viele Offensivkräfte haben dafür auch nicht die richtige Laufarbeit und so rutschen viele Spieler vom Status Abwarten in eine Passivität rein. Man hat sehr schnell den Eindruck, dass man irgendwann nur noch hinterherläuft. Das ist für die Fans und die Mannschaft der falsche Ansatz.