Sport
Interview

Tour-de-Suisse-Direktor Oliver Senn spricht über Gino Mäders Tod

Tour de Suisse-Direktor Olivier Senn bei ihm zu Hause in Gansingen AG.
Tour de Suisse-Direktor Olivier Senn bei ihm zu Hause in Gansingen AG.Bild: Sandra Ardizzone
Interview

Tour-de-Suisse-Direktor Senn nach Mäders Tod: «Es kann und soll alles hinterfragt werden»

Tour-de-Suisse-Direktor Olivier Senn war nach dem Tod von Gino Mäder tagelang als Krisenmanager gefragt. Im Interview blickt der Aargauer zurück auf die äusserst intensive Phase nach dem tragischen Unglück des Schweizer Radprofis, erzählt von seiner emotionalen Achterbahnfahrt und sagt, wo er Potenzial für eine Verbesserung der Fahrer-Sicherheit sieht.
07.07.2023, 20:0107.07.2023, 20:01
Marcel Kuchta / ch media
Mehr «Sport»

Drei Wochen ist es her, seit Gino Mäder im Rahmen der Tour de Suisse gestorben ist. Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie an jene Zeit zurückdenken?
Olivier Senn: Ich merke, dass ich total kaputt bin. Während den intensiven Tage nach dem Unglück ist mir gar nicht aufgefallen, wie müde oder hungrig ich bin. Ich habe einfach funktioniert. Die Trauer nimmt aktuell nicht meinen ganzen Tag ein. Vorbei ist der Verarbeitungsprozess aber noch lange nicht. Es gibt Phasen, in welchem man absorbiert ist mit anderen Aufgaben. Aber die Trauer kommt natürlich immer wieder hoch, weil ich auch von vielen Leuten darauf angesprochen werde. Im Moment merke ich vor allem die Müdigkeit, die mich einholt. Und wenn ich müde bin, bin ich umso emotionaler. Deshalb kommen mir dann auch mal die Tränen.

Wie war der Moment für Sie, als Sie nach Abschluss der Tour de Suisse wieder zu Hause in Gansingen ankamen und die Haustüre hinter sich schlossen?
Der Moment war nicht mal so speziell. Ich denke, es wäre richtig schwierig gewesen mit Ginos Tod umzugehen, wenn wir die Tour de Suisse an jenem Freitag einfach abgebrochen hätten und alle nach Hause hätten gehen müssen. Aber dadurch, dass wir weitergemacht und auch die Tour de Suisse der Frauen noch durchgeführt haben, waren alle Beteiligten noch länger gemeinsam unterwegs und konnten den ersten Schritt der Trauerphase gemeinsam bewältigen. Das hat extrem geholfen.

«Weil ich mich bis zuletzt an die Hoffnung geklammert habe, bin ich noch tiefer ins Loch gefallen.»

Wie war die Situation für Ihre Familie?
Meine Frau kam am Tag von Ginos Tod nach Oberwil-Lieli. Ich wollte sie an jenem Abend in meiner Nähe haben, auch wenn ich sie immer nur für wenige Minuten sah. Sie macht für die Tour-de-Suisse-Kommunikation die Übersetzungen in Englisch und war somit ebenso stark involviert. So musste ich ihr nicht zusätzlich alles nochmals erklären, was ich in diesem Moment auch nicht geschafft hätte. Meine zweitjüngste Tochter war als VIP-Hostess an der Tour dabei und hat natürlich alles hautnah mitbekommen. Und vor allem gesehen, wie es ihrem Vater geht. Für sie war es ziemlich hart. Meine jüngste Tochter war froh, als ich wieder zu Hause war. Aber am meisten mitgenommen hat das Ganze meine Mutter. Die hat gelitten.

Wann wurde Ihnen klar, dass man mit dem Schlimmsten rechnen muss?
Ich bin ein Mensch, der grundsätzlich positiv denkt. Solange es Hoffnung gibt, gibt es Hoffnung. Am Freitagmorgen war dann jedoch für mich die Wahrscheinlichkeit einer positiven Nachricht schon relativ klein. Der Vater von Gino Mäder hat mich dann angerufen und gesagt, dass es schlecht aussehe. Nach diesem Gespräch habe ich mir ernsthafte Gedanken gemacht, wie wir im schlimmsten Fall handeln wollen. Kurz bevor wir uns dann im Team besprechen wollten, wurde wir über den Tod informiert.

Olivier Senn – Tour de Suisse-Direktor
Olivier Senn kam am 7. April 1970 auf die Welt. Er wuchs in Gansingen im Fricktal auf und lebt dort noch heute. Nach seiner Karriere als Radprofi blieb er in verschiedenen Funktionen im Radsport-Business tätig. Heute ist er mit seiner Firma Cycling Unlimited unter anderem Veranstalter und Direktor der Tour de Suisse und damit Chef des wichtigsten und traditionsreichsten Profi-Velorennens der Schweiz. (ku)

Was geht einem durch den Kopf, wenn man so eine schreckliche Nachricht erfährt?
Eigentlich nicht viel. Ich wollte es erst einmal einfach nicht wahrhaben und spürte vor allem eine grosse Leere. Es war eine surreale Situation. Und dadurch, dass ich mich bis zuletzt an die Hoffnung geklammert habe, bin ich in jenem Moment einfach noch etwas tiefer ins Loch gefallen.

Aber sie mussten ja dann sofort kommunizieren und Auskunft geben.
Ja, aber wir hatten dann noch ein Zeitproblem. Das Kernteam der Organisation wusste, was passiert ist. Aber wird durften nicht raus mit der Information, bis das Team von Gino Mäder kommuniziert. Und Bahrain musste wiederum auf das Grüne Licht durch die Familie warten. Wir wollten in der Zwischenzeit aber niemanden anlügen und versteckten uns deshalb in Chur 20 Minuten lang hinter einem Lastwagen. Dort sind dann bereits die ersten Tränen geflossen. Gleichzeitig mussten wir uns Gedanken machen: «Was jetzt?»

Event director Olivier Senn comments the death of racer Gino Maeder from Switzerland of Bahrain-Victorious, ahead of a 20 kilometres ride from Tuelersee to Oberwil-Lieli named "Gino Memorial Ride ...
Olivier Senn stand nach dem Unglück von Gino Mäder im Mittelpunkt des Interesses.Bild: keystone

Sie mussten in der Folge während Tagen unter schwierigsten Umständen funktionieren und laufend heikle Entscheide fällen. Wie schafft man das?
Keine Ahnung! Was sicher unglaublich geholfen hat: Wir haben als Team sehr gut funktioniert und uns gegenseitig super ergänzt. Wir kennen uns seit Jahren und vertrauen uns blind. Ich musste eigentlich keinen Entscheid selbst fällen, da im Team die nächsten Schritte automatisch klar waren. Es gab kaum einmal eine Diskussion. Die Gedenkfahrt vom Freitag nach Oberwil-Lieli wurde beispielsweise von einem kleinen Team innerhalb von zwanzig Minuten geplant. Ich kam nur schnell ins Meeting und wurde informiert. Da war die Sache für mich erledigt. Ich konnte mich letztlich fast vollumfänglich auf die Kommunikation konzentrieren. Das gab mir eine gewisse Ruhe.

«Wir sind als Team zusammengewachsen und haben uns gegenseitig noch mehr vertraut.»

Aber für so eine Situation gibts kein Drehbuch.
Nein. Wir haben bei uns ein Handbuch für Krisenkommunikation, welches ich am Donnerstagabend nach dem Sturz erstmals in die Hand genommen und ein paar Passagen überflogen habe. Da konnte ich ein paar Schlüsselpunkte mitnehmen, die man im Griff haben muss. Mehr nicht.

Hatten Sie keine Selbstzweifel?
Ich denke einfach, dass ich als Typ genau so bin, wie ich in dieser Phase agiert habe. Ich hätte auch keine externe Hilfe in Sachen Krisenkommunikation annehmen können. Und ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln, dass das, was wir entschieden haben, in diesem Moment richtig ist. Wir haben uns immer bestmöglichst mit allen involvierten Partien abgesprochen und abgestimmt – vor allem mit der Familie von Gino. Wenn Kritik von dieser Seite gekommen wäre, wäre das emotional natürlich schwer verkraftbar gewesen.

Trotzdem wurden Sie schnell mit kritischen Fragen, unter anderem zur Streckenführung, konfrontiert.
Damit konnte ich gut umgehen und auf die Seite schieben, weil wir ja schlicht nicht wussten, wie der Unfall überhaupt passiert ist. Zumal Spekulationen das Letzte waren, was wir in dieser Situation wollten.

Wie war das Feedback, das Sie für Ihre Arbeit erhielten?
Mein Ziel ist als Tour-Direktor ja grundsätzlich, überhaupt nicht im Mittelpunkt zu stehen. Das Rampenlicht soll den Sportlern gehören. Ich habe letztlich viel positives Feedback bekommen. Die Art und Weise, wie wir diese Krise bewältigt haben, kam gut an. So ein Lob ist in so einer schwierigen Situation schon schön. Natürlich gab es auch einige negative Kommentare.

Olivier Senn wurde auch als «Mörder» und «Sauhund» bezeichnet.
Bild: Sandra Ardizzone

Zum Beispiel?
Solche, die mich auf Social Media als «Mörder» oder «Sauhund» bezeichneten. Ich kann solche Aussagen jedoch relativ gut wegstecken und noch schneller löschen. Vor allem, wenn es offensichtlich Personen sind, die den Sachverhalt nicht genau kennen und keine Substanz dahinter steckt. Wenn legitime Kritik käme, würde mich das aber natürlich schon beschäftigen.

Es tönt im Zusammenhang mit einem Todesfall blöd: Aber kann so eine massive Krise auch einen positiven Effekt haben? Rückt man als Organisator da nochmals zusammen?
Auf jeden Fall. Ich habe meinen Leuten beim sehr emotionalen Debriefing gesagt: «Jetzt hat jeder und jede von Euch erkannt, welche Kräfte man mobilisieren kann, wenn es darauf ankommt.» Wir sind als Team zusammengewachsen und haben uns gegenseitig noch mehr vertraut. Diese teilweise fast wortlose Kommunikation und die Klarheit in den Entscheidungen ist nicht selbstverständlich. Das war faszinierend. Das habe ich so nicht gekannt.

«Dann hätte man vorher hundert andere auch noch sichern müssen.»

Was haben Sie Ihrem Team mit auf den Weg gegeben?
Für mich waren im Nachgang zwei Punkte am wichtigsten: Erstens, dass alle Beteiligten auf ihre persönliche Art und Weise den Raum bekommen, mit diesem Unglück umzugehen. Wir mussten eine Basis finden, dass das möglich ist. Man kann nicht standardmässig trauern. Zweitens werde ich nicht müde meiner Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber meinem Team Ausdruck zu verleihen. Ohne meine Mitarbeiter hätte ich alt ausgesehen.

Hätten Sie, mit etwas Abstand, irgendetwas anders machen können und müssen, um den Unfall von Gino Mäder zu verhindern?
Ich glaube nicht. Logisch hätte man diese Kurve sichern können. Aber dann hätte man vorher hundert andere auch noch sichern müssen. Ich glaube, dass viele Veranstalter versuchen, das Maximum punkto Sicherheit herauszuholen. Aber letztlich liegt die Verantwortung nicht nur beim Organisator, denn der Athlet hat die Bremsen in der Hand und muss entscheiden, wann und wie er sie benutzt oder eben nicht. Gemäss einer Studie des Internationalen Radsportverbands UCI sind 80 Prozent der Unfälle durch die Fahrer selbst verschuldet. Deshalb habe ich Mühe damit, wenn die Schuld immer beim Veranstalter gesucht wird.

Aber das liegt in der Natur der Dinge, dass nach solchen Unglücken Lösungen gefordert werden.
Dessen bin ich mir bewusst. Ich bin aber gegen irgendwelche plakativen Massnahmen, die ergriffen werden, nur damit etwas gemacht wird. Wenn wir einen Ansatz für eine realisierbare Verbesserung finden, werden wir uns selbstverständlich ernsthaft damit auseinandersetzen. Da kann man auch über auf den ersten Blick unrealistische Vorschläge wie einen Airbag für die Fahrer diskutieren. Es kann und soll alles hinterfragt werden.

Olivier Senn: «Es kann und soll alles hinterfragt werden.»
Olivier Senn: «Es kann und soll alles hinterfragt werden.»Bild: Sandra Ardizzone

Ein Ansatz wären die Unfallstatistiken der Polizei. Die Kurve, in welcher Gino Mäder verunglückt ist, ist ja offenbar ziemlich unfallträchtig.
Genau. Wenn wir diese Informationen hätten, würde uns das wirklich helfen. Dann könnten wir an kritischen Stellen eine zusätzliche Warntafel oder einen Mitarbeiter platzieren, der die Fahrer warnt. Wir müssen in Zukunft mit der Polizei also nicht nur über Baustellen und Sperrungen sprechen, sondern auch über mögliche, gefährliche Passagen mit grösserem Unfall-Potenzial. Wir werden diese Erkenntnisse definitiv für die Planung der nächsten Tour de Suisse miteinbeziehen. Aber eben: Wir wissen ja noch nicht einmal, was bei Ginos Unfall genau passiert ist. Sobald wir von der Polizei und der Staatsanwaltschaft diesbezüglich genauere Informationen haben, werden wir das mit der nötigen Distanz ganz nüchtern analysieren.

«Ich denke Jonas Vingegaard wird seinen Titel an der Tour de France verteidigen.»

Wie erholen Sie sich nun von dieser so intensiven Phase?
Die Tage danach waren mit der Tour de Suisse der Frauen, Ginos Gedenkfeier, die mich übrigens sehr berührt hat und die für die Trauerbewältigung wichtig war, sowie der Schweizer Strassen-Meisterschaft weiterhin sehr intensiv und ich bin selten zu einer Pause gekommen. Letztes Wochenende habe ich dann in Österreich das Formel-1-Rennen mit meiner Tochter besucht, konnte so in einer anderen Welt untertauchen und das erste Mal so richtig durchschnaufen. Im Sommer werden wir uns als Familie im Toggenburg auf einer Alp zurückziehen und einfach die Natur und die Ruhe geniessen.

Wer gewinnt die Tour de France?
Der Fahrer, der am wenigsten Zeit bis nach Paris braucht! (lacht) Im Ernst: Ich denke Jonas Vingegaard wird seinen Titel verteidigen. Seine Mannschaft ist stärker als diejenige von Pogacar, der ja ausserdem von einer Verletzung zurückkam. Die ersten Pyrenäen-Etappen haben das ja auch gezeigt.

Verfolgen Sie das Rennen?
Wenn es passt, schon. Wenn ich im Büro bin, läuft nebenbei der Fernseher. Und während eines Meetings blicke ich schon hie und da auf den Liveticker.

Haben Sie die Netflix-Serie zur Tour de France gesehen?
Ich bin jetzt bei Folge sechs von acht. Ich finde es inhaltlich super spannend gestaltet, mit guten Leuten und guten Geschichten. Die Serie gibt vor allem aussenstehenden Personen einen Einblick in das Renngeschehen und hat somit einen guten Werbeeffekt für die Sportart. Menschen, die sich vorher selten mit dem Radsport befasst haben, erhalten sicher ein ganz neues Bild. Und es verbessert sicher auch das Verständnis für dieses Business. Ich denke jedoch für Personen wie ich, die bereits seit langer Zeit in dieser Welt dabei sind, wirkt die Serie ein wenig künstlich und durch den Off-Sprecher aufgemotzt.

Wäre das auch etwas für die Tour de Suisse?
Grundsätzlich würde ich sicher nicht nein sagen, wenn es so eine Anfrage geben würde. Generell ist es vor allem als traditionelle Sportart wichtig, sich zu öffnen, um immer wieder neues, junges Publikum zu erreichen. Dabei kann so eine Serie sehr gut helfen.

(Mitarbeit: Annica Frey) (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Todesfälle im Radsport
1 / 27
Todesfälle im Radsport
Velorennfahrer leben gefährlich – nicht nur im alltäglichen Strassenverkehr. Allein seit 2000 kamen 35 Profis bei Unfällen im Rennen ums Leben, zuletzt Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer an der Rad-WM in Zürich. Eine Übersicht mit den bekanntesten Fällen.
quelle: ap/ap / christophe ena
Auf Facebook teilenAuf X teilen
YouTuber baut Velo mit viereckigen Rädern und es fährt – aber nicht, wie du denkst
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
1 Kommentar
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
1
    Maradona schiesst das Tor des Jahrhunderts – aber in Erinnerung bleibt die «Hand Gottes»
    22. Juni 1986: Kein anderer Spieler hat je eine WM so dominiert wie Diego Maradona 1986. Die beiden Treffer gegen England haben ihn nicht nur in Argentinien zum Fussballgott gemacht.

    Diego Maradonas Augen waren noch glasig, sagen diejenigen, die ihn an diesem 22. Juni 1986 in der Kabine haben sitzen sehen. Sein Lächeln sei steinern gewesen. Er war sich bewusst, dass er mit seinem Tor zum 2:0 gegen England einen Akt sublimer Kunst vollbracht hatte. Sublime Kunst bedeutet, etwas Grosses, Überwältigendes, das nur mit dem Gespür für das Aussergewöhnliche überhaupt verstanden und nicht wiederholt werden kann.

    Zur Story