79 Minuten sind gespielt am 28. Juni 2021 in diesem EM-Achtelfinal zwischen der Schweiz und Frankreich. Die Nati liegt 1:3 zurück. Es ist der Moment, als Christian Fassnacht eingewechselt wird. Was dann geschieht, ist Schweizer Fussball-Geschichte. Zweimal erobert Fassnacht den Ball. Tor Seferovic, Tor Gavranovic, 3:3, Verlängerung, Penaltyschiessen, Sommer hält, Viertelfinal.
Mittlerweile ist Fassnacht 30-jährig und spielt in Norwich, in der zweithöchsten englischen Liga. Bei der EM ist er nicht dabei. Für CH Media blickt er dafür zurück auf das Turnier 2021, insbesondere die Zeit zwischen Achtelfinal und Viertelfinal. Und er spricht über England, den nächsten Schweizer Gegner an diesem Turnier.
Wo verfolgen Sie die EM?
Christian Fassnacht: Seit letzter Woche bin ich wieder in England. Am Freitag war Trainingsstart. Davor habe ich in der Schweiz mitgefiebert.
Wie lautet Ihr Zwischenfazit zu den Schweizer Leistungen?
Ein Wort reicht eigentlich: sensationell! Ich merke selbst beim Zuschauen vor dem TV, dass da ein Team auf dem Platz ist mit einem wirklichen Plan. Jeder weiss, was zu tun ist. Und die Nati funktioniert wirklich als Team. Ja, auch wir haben Stars wie Granit (Xhaka) oder Manu (Akanji) auf dem Platz, aber es ist eine funktionierende Einheit. Wenn ich hingegen den Engländern zuschaue …
… das tönt nicht nach Begeisterung!
Da sind Superstars auf dem Platz. Aber kein Team. Ganz einfach.
Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr gegenüber dem englischen Nationalteam?
Die Leute sind mega enttäuscht. Sie sind absolut unzufrieden. In jeder Diskussion höre ich das raus. An erster Stelle mit dem Trainer. Der Tenor ist: Southgate soll sogar dann gehen, wenn England doch noch irgendwie den EM-Titel holt. Das Gefühl, dass die Leute am Brennen sind auf die Spiele, fehlt komplett. Stattdessen dominiert Ernüchterung. Man schaut die Spiele halt – aber es bleibt auch noch Zeit, um daneben etwas anderes zu machen.
Bei aller Kritik: Was haben die Engländer gut gemacht an dieser EM bis anhin?
Sie stehen im Viertelfinal. Die Pflicht ist damit erfüllt. Und sie werden sich sagen: Es zählt nur das Ergebnis. Sie hatten den Willen, das Spiel gegen die Slowakei noch zu drehen. Ein Spiel gegen sie ist nie fertig. Und dann reicht ein Geniestreich. Dieses Tor, das Jude Bellingham per Fallrückzieher erzielt, das können derzeit vielleicht noch fünf andere Spieler auf dieser Welt. Aber sonst? Nein, da gab es nicht viel Positives.
2021 erlebten Sie mit der Nationalmannschaft, wie es ist, einen EM-Achtelfinal zu gewinnen. Wie waren die Tage danach bis zum Viertelfinal?
Es herrschte eine unglaubliche Euphorie. Glücksgefühle ohne Ende. Es war die Genugtuung da, endlich einmal etwas erreicht zu haben, das gefühlt unmöglich schien. Und dann merkst du: Dieses Erlebnis schweisst uns zusammen.
Wie sehr haben Sie die Euphorie, die in der Schweiz ausgebrochen ist, mitgekriegt?
Es hat ein bisschen gedauert, bis wir die Dimensionen mitgekriegt haben. Vor Ort in Bukarest konnten nicht so viele Fans sein wie jetzt, auch wegen Corona. Es dauerte also, bis wir all die Videos sahen aus der Schweiz. Als wir dann merkten, was alles abgegangen ist auf den Strassen, was wir mit diesem Sieg alles ausgelöst haben, hat das nochmals Energie gegeben für die nächsten Tage. Ich denke, an dieser EM ist das Erleben der Emotionen viel direkter, weil sehr viele Schweizer in den Stadien sind. Das ist grossartig.
Gab es nach dem Sieg im Achtelfinal einen Spannungsabfall, weil das grosse, ewige Ziel bereits erreicht wurde?
Nein, im Gegenteil! Im Moment, als wir diese – entschuldigen Sie den Ausdruck – kranken Emotionen gespürt haben, wollten wir mehr. Dafür lebt ein Sportler. Jeder wollte das nochmals erleben. Es herrschte in der Mannschaft das Denken: «Wir haben geschafft, was niemand erwartet hat. Jetzt haben wir ohnehin nichts mehr zu verlieren.» Es war also eher eine Motivation. Im Sinne von: Wenn das gegen Frankreich geht, dann ist das auch gegen Spanien möglich. Nicht überheblich gemeint, sondern einfach realistisch.
Und jetzt ist das wieder genau gleich?
Nein, es gibt einen entscheidenden Unterschied. 2021 wussten wir: Wir haben gegen Frankreich und Spanien eine Chance, wenn wir über unsere Grenzen gehen und sie einen schlechten Tag haben. Jetzt ist das nicht mehr der Fall. Auch wenn England gut performt, hat die Schweiz trotzdem eine realistische Chance zu gewinnen. Die Schweizer Dominanz gegen Italien war unglaublich. Dazu haben wir das Spiel der Engländer im Kopf, viel Krampf und wenig Glanz. Es liegt etwas in der Luft.
Sind Sie enttäuscht, dass Sie selbst nicht mehr in der Nati dabei sind?
Diese Gedanken mache ich mir nicht. Hätte, wäre, wenn - das bringt nichts. Ich hatte meine Momente vor drei Jahren, nun gönne ich es allen, die sie jetzt erleben. Natürlich hätte ich mich nicht gewehrt, dabei zu sein. Aber ich bin realistisch, ich hatte nicht die Wahnsinns-Saison in Norwich, darum ist auch keine Welt zusammengebrochen, weil ich kein Aufgebot erhalten habe.
Haben Sie Kontakt während des Turniers mit einigen Nati-Spielern?
Ja, ich schreibe ab und zu Nachrichten mit einigen. Was ich höre, ist die Stimmung wirklich sehr gut. Die Bedingungen im Camp stimmen. Und wenn dann noch Erfolg dazukommt, der nicht auf Glück basiert, dann bestärkt dich alles nur noch weiter. Es sind ganz viele positive Typen dabei in diesem Team. Und jene, die keine Hauptrolle auf dem Platz haben, tragen neben dem Platz auch zur guten Stimmung bei. Das zeichnet gute Teams aus.
Würden Sie für den Viertelfinal etwas an der Aufstellung ändern?
Zum Glück muss nicht ich das entscheiden! Mein Bauchgefühl würde sagen: Nichts wechseln. Andererseits ist Silvan Widmer wieder zurück nach seiner Sperre, er müsste eigentlich auch dabei sein. Schwierig! Mal schauen, welches Ass Murat Yakin noch hervorzaubert. Seine Entscheide an dieser EM sind eine Meisterleistung.
Ihr Tipp für Schweiz - England?
2:1 für die Schweiz. (aargauerzeitung.ch)