Herr Messner, was bedeutet der
Tod von Ueli Steck für die Bergsteigerkreise?
Reinhold Messner: Das ist eine ganz
tragische Geschichte, weil Ueli Steck
in den letzten 15 Jahren einer
der führenden Alpinisten weltweit
war. Die Menge seiner Besteigungen in
den Alpen und im Himalaya ist ohne
Vergleich. Ich konnte mir ehrlich gesagt
nicht vorstellen, dass er jetzt
noch verunglückt, weil er so erfahren
war und genau wusste, was er tat.
Welchen Platz wird Ueli Steck in
den Geschichtsbüchern des
Alpinismus finden?
Er wird als der Bergsteiger in Erinnerung
bleiben, der die Eigernordwand
in unglaublich kurzer Zeit durchstiegen
hat. Aber auch als ein kreativer und
traditioneller Bergsteiger, der in die Zukunft
klettern wollte. Was er jetzt am
Everest plante ist – so meine Vermutung
– nicht genau präsentiert worden.
Ich bin im Zweifel und frage mich, ob
er mehr vorhatte, als er bekannt gab.
Was meinen Sie damit?
Der Aufstieg auf den Nuptse am Sonntag
zeigt, dass er ein grosses Übersteigungsziel
hatte, vielleicht mehr, als
wir wissen. Ich kann mir vorstellen,
dass er den Nuptse, den Lhotse und
den Everest durchsteigen wollte. In Alpinkreisen
nennt sich diese Route das
Hufeisen. Leider können wir ihn nicht
mehr fragen.
Es heisst, der Nuptse sei ein vergleichsweise
einfacher Berg. Umso
unbegreiflicher, dass Steck hier
abstürzte. Wie schwierig ist die
Besteigung des 7861 Meter hohen
Gipfels tatsächlich?
Ich bin selber nie auf den Nuptse gestiegen,
aber ich kenne die Route und
die Stelle, wo Steck weggegangen ist.
Er wollte durch die Nordwand auf den
Gipfel steigen. Eine schwierige Wand.
Ueli Steck galt als Vorreiter einer
Bergsteigergeneration, in der nicht
nur die Schwierigkeit, sondern
auch das Tempo massgebend war.
Dafür erntete er oft Kritik.
Die geäusserte Kritik betraf weniger
das Speedclimbing. Das Skyrunning
wie es auch genannt wird, war für ihn
die Basis, um so ein Projekt der Überschreitung
wie des Lhotses und des
Everests überhaupt machen zu können.
Es ist etwas anderes, wenn einer
die Eigennordwand zehn Minuten
schneller oder langsamer hochklettert.
Das ist mir persönlich nicht besonders
wichtig und nicht das Kriterium. Wenn
aber einer zwei Achttausender in dieser
Höhe besteigen will, dann geht das
nur, wenn er extrem schnell ist. Die Logistik
ist darauf ausgerichtet. Für mich
ist das in Ordnung, dass einer seine Geschwindigkeit
nutzt, um Sachen zu machen,
die vorher unmöglich waren.
Trotzdem gab es immer wieder
Vorwürfe, dass Steck mit seiner
Vorgehensweise die Berge entmystifiziert
oder gar banalisiert hat.
Nein, das stimmt nicht. Die Berge wurden
banalisiert mit dem Beginn des Alpinismus.
Jahrtausende lang hat der
Mensch die Berge als eine mythologische
Dimension gesehen. Nicht antastbar.
Im Himalaya ist das zum Teil heute
noch so. Erst seit der Französischen
Revolution, seit der Aufklärung, steigen
wir auf die Berge und nehmen sie
als Möglichkeit wahr, darauf rumzuklettern.
Ueli Stecks Verdienst ist, dass
er vieles, was bisher unmöglich
schien, möglich gemacht hat. Die
Hauptkritik an ihm hatte weniger mit
seinem Stil zu tun als den Zweifeln an
seiner Annapurna-Besteigung 2013.
Gab es zwischen Ihnen und Ueli
Steck Berührungspunkte, was den
Alpinismus betrifft?
Wir haben uns mehrmals getroffen
und einmal ein langes Interview geführt.
Ueli verkörperte eine andere Generation.
Es wäre auch falsch, Anderl
Heckmair, der die Eigernordwand 1938
als Erster durchstieg, mit mir zu messen.
Stecks Geschwindigkeit war in
meiner Zeit nicht denkbar. Ich sage
nicht nur nicht möglich, sondern nicht
denkbar, weil die Geräte nicht vorhanden
waren und das perfekte Training
nicht gemacht wurde. Es wäre daher
nicht richtig, uns zu vergleichen. Was
man kann, ist die Philosophie teilen.
Die nächste Generation wird nochmals
andere Möglichkeiten haben. Der Alpinismus
wird nicht dort stehen bleiben,
wo ihn Ueli Steck berührt hat.
Von Ihnen stammt der Satz: «Das
Bergsteigen ist völlig nutzlos, aber
nicht sinnlos.» Wenn man am Ende
wie Ueli Steck sein Leben lässt,
dann ist es doch sinnlos?
Das Bergsteigen kann gar nicht sinnlos
sein, weil wir den Sinn in das Hier und
Jetzt hineinlegen. Den Sinn geben ja
wir. Die Nützlichkeit ist eine Frage der
allgemeinen Betrachtung. Für die Gesellschaft
war es nicht nützlich, als Ueli
Steck in zweieinhalb Stunden durch
die Eigernordwand kletterte. Aber die
Sinnstiftung ist seine Angelegenheit.
Wenn Steck nicht in der Lage gewesen
wäre, seinem Tun, genauso wie er es
gemacht hat, einen Sinn einzuhauchen,
dann hätte er es nicht getan.
Aber selbstverständlich, wenn jemand
mit 40 Jahren umkommt, dann ist das
tragisch.
Was bedeutet Stecks Tod für die
Angehörigen?
Was wir Alpinisten unseren Frauen,
Müttern und Kindern antun, ist nicht
zu rechtfertigen. Leider gehört das
Sterben unter Umständen dazu. Jeder
der eine ähnliche Biografie wie Ueli
Steck hat, hatte in seinem Leben ein
paar Mal Glück. Es ist nicht nur Können,
dass ich meine Projekte und Expeditionen
überlebt habe. Leider sind
mehr als die Hälfte der absoluten Spitzenbergsteiger
bei der Ausübung ihrer
Leidenschaft ums Leben gekommen.
Wer hätte gedacht, dass es Ueli Steck
mit 40 Jahren erwischen würde,
bei diesem Können.
Was geht Ihnen nach der Nachricht
durch den Kopf? Sind Sie froh, den
eigenen Ausstieg vom Spitzenalpinismus
rechtzeitig geschafft zu haben?
Ich hatte insofern Glück, als ich in
meinem Leben immer wieder gezwungen
war umzustellen. Mein gedanklicher
und philosophischer
Grundsatz lautet: Das Können ist des
Dürfens Mass. Man muss erkennen,
dass man ab einem gewissen Alter
nicht mehr so geschickt ist und nicht
mehr die gleiche Schnellkraft besitzt
wie mit 25. Ich habe in diesem Alter
meine Zehen verloren und konnte ab
dann nicht mehr so gut klettern wie
zuvor. Daraus ist das Höhenbergsteigen
entstanden. Ich befinde mich nun,
wie ich es nenne, in der siebten Lebensphase.
In dieser habe ich in den
letzten fünfzehn Jahren mein Museumsprojekt
auf die Beine gestellt, wo
im Übrigen auch Ueli Steck darin vorkommt.
Er ist dort unter den zehn Alpinisten
aufgeführt, die sozusagen die
Zukunft des Alpinismus repräsentieren.
Zwei von diesen Bergsteigern sind
jetzt tot. Im Museum befindet sich
ausserdem eine Kapelle, in der ich die
grossen Bergsteiger der letzten 150
Jahre darstelle, die verunfallt sind.
Wird Ueli Stecks Tod in der Bergsteigerszene
etwas verändern, eine
Grundsatzdebatte auslösen, oder
wird die Entwicklung des Unmöglichen
in gleichem Tempo fortschreiten?
Die Entwicklung geht natürlich weiter.
Sie hat sich immer nur nach einer Prämisse gerichtet: möglich oder unmöglich.
Die Spitzenbergersteiger haben alle
versucht, das Unmögliche, das in ihrer
Zeit definiert war, möglich zu machen.
Hätte Ueli Steck die erwähnte Hufeisen-Route
geschafft, wäre das eine neue Dimension
gewesen. Es bleibt jetzt leider
unmöglich, weil er nicht mehr lebt.
Dass es eine Diskussion geben wird, ist
unvermeidbar. Wenn die Leute jetzt sagen,
dass Bergsteigen sinnlos ist, haben
sie nichts verstanden.