Meinen ersten Kontakt überhaupt mit Ueli Steck habe ich Anfang Juni 2015. Steck will mit einem befreundeten Bergsteiger alle 82 Viertausender der Alpen erklimmen – an einem Stück und in 80 Tagen. «82 Summits» heisst das Projekt, ich als damaliger Praktikant in der zweiten Arbeitswoche solle das Unterfangen journalistisch begleiten, heisst es vom Sportchef.
So kommt es also, dass ich – mit der Bergwelt und ihren Tücken mehr oder minder vertraut – nach einigen Stunden Recherche zum Telefon greife und die Nummer von Ueli Steck wähle. Der gebürtige Emmentaler ist ob der Tatsache, mir nun von seinem Projekt zu erzählen, nicht übermässig begeistert. Das anschliessende Gespräch ist dann aber sehr interessant. Steck, nach einigen Minuten warm gelaufen, gibt plötzlich bereitwillig Auskunft. Dass die das Projekt begleitende Agentur ihn dazu ermuntert hat, kommt mir entgegen.
Wir unterhalten uns über eine alpinistische Idee, die so anders ist als die meisten bisherigen Pläne, die der Extrembergsteiger in seiner langen Karriere bisher ausgeheckt hat. Die regelrecht abweicht von seinem eigentlichen Erfolgsdenken. Ueli Steck war ein Getriebener, einer, der sich keine Pause gönnte, einer, der konsequent nach dem heutigen Motto der olympischen Spiele agierte: Citius, altius, fortius, zu Deutsch: schneller, höher, stärker.
In einem vielbeachteten Interview mit dem Tages-Anzeiger sagte Steck: «Mit meinem Leistungsdenken setze ich mich unter Druck, weil ich immer besser werden will. Entsprechend viel Risiko gehe ich dann ein». Der Schweizer bekräftigt diese Aussage, als er auf sein Alter angesprochen wird: «Beim Bergsteigen kann man die abnehmende körperliche Fitness lange durch mehr Risiko ausgleichen. Also erreichst du weiter Topresultate. Doch die Entwicklung ist dann absehbar: Irgendwann riskierst du so viel, dass es knallt.»
Dieses Risiko war bei «82 Summits» viel weniger im Fokus als beispielsweise bei Stecks Geschwindigkeitsrekord an der Eiger-Nordwand oder bei seiner Solo-Besteigung der Annapurna. 82 viertausend Meter hohe Gipfel zu erklimmen in 80 Tagen, das tönt für den Freizeit-Wanderer, der am Sonntag die Rigi in Angriff nimmt, zwar nach einem Mega-Projekt, nicht aber für Ueli Steck.
«Es geht uns nicht um einen Rekord, es geht ums Erlebnis, darum, zweieinhalb Monate unterwegs sein zu können», sagte mir der gelernte Zimmermann am Telefon. Steck hat seinen Plan damals übrigens viel schneller in die Tat umgesetzt als geplant – nach 62 Tagen waren die 82 Viertausender bestiegen.
Ich schreibe in meinem Artikel damals von Ruhe und Bescheidenheit, die der gelernte Zimmermann auf seinen Expeditionen am Himalaya vermisse, lasse mir von Steck erklären, dass er und sein Alpin-Partner bei diversen Gipfeln bewusst die interessanteren, die technischen Routen wählten und zitiere ihn folgendermassen: «Ich bin persönlich an einem Punkt, wo ich sagen muss, immer höher, immer weiter, immer extremer, das ist nicht möglich. Das ist eine Sackgasse. Mit ‹82 Summits› will ich zurückbuchstabieren.»
Wieso hat Ueli Steck trotzdem wieder nach vorne buchstabieren müssen? Wieso wollte er eine Dopppelbesteigung des Mount Everest und des Lhotse in Angriff nehmen, die bisher von keinem anderen Bergsteiger weltweit realisiert worden war, geschweige denn in den angestrebten 48 Stunden und ohne Sauerstoff?
Natürlich: Der Emmentaler gehört zu einer globalen Elite von Extrem-Alpinisten die ihresgleichen sucht. Es hätte uns auch nicht erstaunt, wenn Steck den höchsten und den vierthöchsten Gipfel unseres Planeten in der angestrebten Zeit und Route erfolgreich bestiegen hätte, weil wir uns seiner Husarenstreiche und pulverisierter Rekorde in den letzten 20 Jahren bewusst sind. Und trotzdem fragt sich die Bergsteiger-Szene: War es die eine Expedition zu viel?
Der 40-Jährige war in seiner Karriere schon einige Male mit dem Tod konfrontiert. Etwa im April 2013, als Steck und befreundete Bergsteiger am Mount Everest nach einem Streit von 100 aufgebrachten Sherpas attackiert werden und nur die Hilfe einer amerikanischen Bergsteigerin eine Tragödie verhindern kann.
Oder im Mai 2007, als der Schweizer alleine die Annapurna-Südwand zu besteigen versucht, von einem Stein getroffen wird, bewusstlos in die Tiefe fällt und nur mit viel Glück überlebt.
Nun ist Ueli Steck während den Vorbereitungen zur Mount-Everest-Lhotse-Besteigung 1000 Meter in die Tiefe gestürzt und ums Leben gekommen. Im erwähnten Interview mit dem Tages-Anzeiger sagte der Emmentaler punkto Einordnung des Projekts: «Bin ich auf dem Everest, kann ich jederzeit abbrechen. Das Risiko ist also eher gering. Für mich ist es primär ein physisches Projekt. Entweder komme ich durch – oder habe keine Kraft zur ganzen Überquerung.»
Laut eigenen Aussagen war Steck perfekt vorbereitet, er sei beispielsweise in einem Monat 240 Kilometer gerannt, dazu kommen 16'000 Höhenmeter.
Der traurige Fakt ist: Es hat nicht sollen sein – und ich erinnere mich zurück an den Moment, an welchem mir der Extrembergsteiger vor knapp zwei Jahren am Telefon glaubhaft versicherte: «Ich bin persönlich an einem Punkt, wo ich sagen muss, immer höher, immer weiter, immer extremer, das ist nicht möglich. Das ist eine Sackgasse.»