Es hat mich ziemlich heftig erwischt. Covid-19. Schüttelfrost, Glieder- und Kopfschmerzen, Schwindel, 40 Grad Fieber. Während dreier Tage war mein Körper im Krisenmodus. Ich bin 35 Jahre jung, sportlich, dreifach geimpft. Ich will mir nicht vorstellen, welchen Schaden das Virus hätte anrichten können, hätte ich ein naives Immunsystem gehabt. Jetzt sitze ich in einem kleinen Zimmer in London fest. Hoffe auf Besserung. Das ist unangenehm.
Am Montagabend beginne ich zu frieren, mir ist schwindlig, ich bekomme Schüttelfrost. Eine Ibuprofen-Tablette schafft für ein paar Stunden Abhilfe, ich verlasse die Anlage, mache einen Schnelltest. Positiv. Wimbledon ist für mich vorbei. Wie für den Vorjahresfinalisten Matteo Berrettini, den Finalisten von 2017, Marin Cilic und den ehemaligen Top-10-Spieler Roberto Bautista Agut. Sofort informiere ich meine Kolleginnen und Kollegen, die ihren Arbeitsplatz in der gleichen Reihe haben wie ich. Dem All England Club schreibe ich ein E-Mail, wie es das Protokoll vorsieht.
Die Antwort? Ein E-Mail, in dem Bedauern geäussert wird und ein Link zur Website des National Health Service, in dem erläutert wird, was ich zu beachten habe. Mehr nicht. Bis heute hat der Organisator nicht einmal mit meinen unmittelbaren Sitznachbarn Kontakt aufgenommen. Das Interesse, die Infektionskette zu unterbrechen? Klein. Ganz nach dem Motto: The Show must go on. Die logische Konsequenz? Mehrere Kontaktpersonen entwickeln Symptome, am dritten Tag wird die erste positiv getestet.
Was mich in den ersten Stunden zusätzlich beschäftigt, ist die Frage, ob ich allenfalls Spielerinnen und Spieler angesteckt habe. Am Wochenende vor dem Turnier sass ich mit Stan Wawrinka in einem kleinen Raum an einem Tisch, mit Ylena In-Albon, fast eine halbe Stunde mit Belinda Bencic. Und Grigor Dimitrov erzählte mir, wie eine Infektion vor zweieinhalb Jahren (!) sein Leben veränderte. 8 Kilogramm verlor er innert 20 Tagen, sprach von den schlimmsten Monaten seines Lebens. Wissen diese Sportlerinnen und Sportler Bescheid? Inzwischen weiss ich: Nein. Wimbledon hüllt lieber den Mantel des Schweigens über meine Infektion. Das ist verlogen und dumm.
Ja, Wimbledon hatte vor zwei Jahren als einziges der vier Grand-Slam-Turniere auf eine Durchführung verzichtet. Weshalb? Sicher nicht nur aus Nächstenliebe und Fürsorge. Sondern auch aus Kalkül. Der Schaden, den eine Infektionswelle angerichtet hätte – für das Ansehen und finanziell – hätte den Nutzen überstiegen. Zudem verfügte man über eine Pandemie-Versicherung. Abzusagen war nicht mutig, sondern alternativlos.
Nun fährt Wimbledon – in Abstimmung mit den Richtlinien der nationalen Gesundheitsbehörde – einen anderen Kurs: Wenn man nicht testet, kann man auch nicht zum Seuchenherd werden. Dumm nur, zeigten mit dem Finalisten von 2017, Marin Cilic, und dem Vorjahresfinalisten, Matteo Berrettini, zwei Spieler mehr Verantwortungsbewusstsein als das Turnier. Sie fühlten sich krank, liessen sich testen und zogen sich daraufhin zurück, obwohl sie keine starken Symptome gezeigt habe. «Aus Rücksicht auf die anderen und all jene, die am Turnier mitwirken», wie der Italiener sagte.
Besonders grotesk: Cilic und Berrettini hätten husten, keuchen und rotzen können, wie sie wollen. Auch der positive Befund ändert gar nichts. Sie hätten beide dennoch teilnehmen und sich völlig frei bewegen können. Titelverteidiger Novak Djokovic moniert zu Recht: «Vor einigen Monaten hatten wir noch strenge Regeln. Jetzt kann jeder positiv Getestete selbst entscheiden, ob er spielt oder nicht. Das ergibt für mich keinen Sinn.»
Weshalb das möglich ist? Weil Wimbledon auf die Komplizenschaft der Spielerinnen und Spieler zählen kann, denen es um den eigenen Profit geht. Dass es das und nichts anderes ist, zeigt auch die Tatsache, dass – trotz anderer Behauptungen – niemand auf eine Teilnahme verzichtet hat, obwohl keine Weltranglistenpunkte vergeben werden. 61'000 Franken Preisgeld für eine Niederlage in der ersten Runde sind eben zu verlockend.
Dafür gefährdet man auch die Gesundheit – die eigene und die anderer. Alizé Cornet nannte es in der französischen Sportzeitung «L'Equipe» eine «stillschweigende Übereinkunft», die in Paris formidabel funktioniert hat: «In der Kabine hatten alle das Virus und wir haben nichts gesagt. Wir werden uns nicht testen lassen, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen.» Das ist – mit Verlaub – egoistisch, rücksichtslos und dumm. Denn eine Ansteckung, das zeigt das Beispiel von Grigor Dimitrov, kann für Sportler verheerende Folgen haben. Der Körper ist ihr Arbeitsinstrument. Ist er nicht mehr funktionsfähig, verlieren sie ihre Existenzgrundlage.
Überrascht diese Kurzsichtigkeit? Leider nicht. Kein globaler Sport hat während der Pandemie ein derart jämmerliches Sittenbild abgegeben wie das Tennis. Es begann mit Novak Djokovics Adria-Tour auf dem Balkan, ging mit einem Schauturnier in Atlanta weiter, damals ein Epizentrum der Pandemie. John Isner beschimpfte Kritiker als «Corona-Brüder», die im Keller bleiben können, «während ich mich dafür entscheide, mein Leben zu leben und den Sport, den ich liebe, auszuüben und zu bewerben».
Heisst übersetzt: Mein Leben, meine Privilegien und Bedürfnisse sind wichtiger als der Schutz der Vulnerablen. Eine Ignoranz, die schwer zu ertragen ist. Manch einer in dieser Tennisblase scheint den Bezug zur Realität verloren zu haben und glaubt, über den Dingen zu stehen. Wie Alexander Zverev. Er kündigte nach der Adria-Tour reumütig an, sich freiwillig zu isolieren. Was er nicht tat, wie Bilder aus einem exklusiven Privatclub an der Côte d’Azur zeigten, wo er sich sechs Tage später mit Hunderten von Gästen und leicht bekleideten Damen vergnügte.
Die Beispiele zeigen, woran das Tennis krankt: Selbstherrlichkeit und grenzenloser Egoismus. Aber weshalb sollte man sich wundern? Mit Novak Djokovic machte der Branchenprimus klar, dass er kein Problem damit habe, auf die US Open zu verzichten, weil er als Ungeimpfter nicht in die USA einreisen kann. Diese konsequente Haltung verdient Respekt. Am Tag darauf äusserte Djokovic hingegen, dass es jeglicher Logik entbehre, dass ungeimpfte Amerikaner teilnehmen könnten und insinuierte politische Gründe. Er offenbarte damit, dass auch er nichts verstanden hat.
Es geht hier nicht darum, ob ein Tennisspieler ein Turnier bestreiten kann oder nicht. Es geht darum, dass ungeimpfte Ausländer nicht in die USA einreisen können. Wozu es führt, wenn man für eine privilegierte Kaste Ausnahmen zu konstruieren versucht, hat Novak Djokovic in Australien am eigenen Leib erfahren. Er – und mit ihm die ganze Tennisblase – ist gut beraten, sich angesichts der Lage der Welt in Demut zu üben.
Vorher hat man - auch Simon Härig - wenig drüber moniert und ein Fernbleiben ist auch nicht in Frage gekommen.
Jetzt über die (schrecklich) lasche Nachverfolgung und die unkalkulierbaren Risiken motzen ist extrem einfach. Und damit extrem billig.
Abrechnungen sind hinterher supereinfach. Konsequent und eigenverantwortlich handeln ist schwerer.