Grigor Dimitrov war einmal die grösste Verheissung im Männertennis, gewann das Junioren-Turnier in Wimbledon, erreichte dort 23-jährig die Halbfinals, stand später auch bei den Australian Open und den US Open je einmal in den Halbfinals, gewann den Final der acht Jahresbesten. Wegen seines eleganten Spielstils wurde er oft mit Roger Federer verglichen. Die Karriere verlief nach Plan. Dann steckte sich der Bulgare gleich zu Beginn der Pandemie mit dem Coronavirus an. Es machte sein Leben zur Hölle.
Es war im Frühjahr 2020, die erste Welle der Pandemie flachte ab, doch die Unsicherheit war immer noch gross: Mutiert das Virus? Wird es noch ansteckender? Wird es tödlicher? Wird es einen Impfstoff geben? Wann? Alles Fragen, die damals (und zum Teil bis heute) nicht zu beantworten waren. Auch auf den Tenniszirkus hatte das drastische Auswirkungen. Zwischen April und August fanden keine Turniere statt. Keine? Nicht ganz.
Es war die Zeit, in der Novak Djokovic die Adria-Tour ins Leben rief. Eine Turnierserie auf dem Balkan. Gespielt werden sollte über vier Wochen verteilt in Serbien, Kroatien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina. Es war ein Spektakel. Jeweils über 4000 Zuschauer waren in Belgrad und Zadar, dicht an dicht gedrängt, Sonnenschein, Partymusik, dazu einige der besten Spieler Europas. Ein Publikumserfolg. Doch im Rest der Welt löste die Adria-Tour Befremden aus. Weil das Bild einer heilen Welt vermittelt wurde, wonach die Region verschont bliebe. Kritik? Kanzelte Djokovic als Xenophobie ab, indem er sagte, sie komme «vor allem aus dem Westen».
Was natürlich ein frommer Wunsch war. Am siebten Tag wurde Realität, was nicht anders zu erwarten war: Grigor Dimitrov wurde als erster Akteur positiv getestet, als er bereits zurück an seinem Wohnort Monte Carlo war.
Es war bloss der Anfang einer regelrechten Welle. Es folgten Alexander Zverev, Borna Coric, Viktor Troicki und dessen damals hochschwangere Frau, später auch Novak Djokovic und dessen Frau Jelena. Der Anlass wurde zur Staatsaffäre, denn auch der kroatische Premierminister, Andrej Plenkovic, hatte der Adria-Tour seine Aufwartung gemacht. Wie auch der Bürgermeister von Zadar, Branko Dukic, und Bozidar Longin, Präfekt der Provinz, wurden in Quarantäne versetzt.. Über 100 Menschen wurde Selbstisolation verordnet, darunter Kindern, die mit Djokovic in Kroatien auf dem Platz gestanden waren. Die Adria-Tour wurde abgebrochen.
So gut die Absicht war, so verheerend war der Ausgang der Adria-Tour. Fast in Vergessenheit geraten ist das erste Opfer: Grigor Dimitrov. Dabei litt der Bulgare stark unter der Erkrankung. Er verlor acht Kilogramm innert 20 Tagen, konnte während Wochen kaum trainieren. Heute sagt er: «Es ging mir wirklich schlecht. Ich begann zu zweifeln, misstraute meinem Körper. Konnte kaum atmen. Es war brutal, die schlimmsten Monate meines Lebens. Ich hatte grosse Angst um meinen Körper. Es war frustrierend und beängstigend.»
Dimitrov verlor den Geschmacks- und den Geruchssinn, und das Vertrauen in seinen Körper. «Ich hatte Zweifel, entwickelte tiefes Misstrauen.» Alles war aus der Balance geraten, immer wieder entzündeten sich Muskeln. Erst schmerzten die Beine, dann die Schultern, der Rücken, dann die Knie. «Ein Teufelskreis», sagt Dimitrov. Es habe mehrere Monate gedauert, bis er wieder zu einer gewissen Normalität zurückgefunden habe.
Besonders einschneidend sei für ihn der Moment gewesen, als er von der Diagnose erfahren habe. «Als man mir sagte, dass ich mich mit Corona infiziert habe, hat es mir buchstäblich den Hals zugeschnürt. Ich hatte die Tage zuvor mit vielen Leuten Kontakt, auch mit Kindern, sodass ich erst allen Betroffenen Bescheid geben musste. Kurz zuvor hatte ich auch noch meine eigene Familie gesehen. Zum Glück hatte ich sie nicht angesteckt.»
Auch psychisch setzte ihm die Erkrankung zu. «Wenn man während 20 Tagen für 24 Stunden alleine zu Hause ist, gehen einem viele Dinge durch den Kopf. Es ist unvermeidlich, dass schlechte Gedanken aufkommen.»
Doch Dimitrov machte aus der Not eine Tugend. In der Zeit, in der er kaum trainieren konnte, besuchte er mit seiner Mutter in Bulgarien mehrere Waisenhäuser. «Ich wollte sehen, wie die Kinder dort leben. Es war hart, zu sehen, dass sie kaum eine Chance im Leben haben.» Die Erkrankung führte bei ihm zu einem Umdenken. «Es gab Zeiten, in denen ich vom Tennis besessen war. Wenn ich gewann, fühlte ich mich wie ein König. Wenn ich verlor wie ein Bettler.» Ein halbes Jahr nach seiner Erkrankung und kurz vor dem 30. Geburtstag erfüllte er sich einen Herzenswunsch und gründete eine Stiftung, die Waisenkindern unterstützen will.
Macht er sich Vorwürfe, das Virus bagatellisiert zu haben, indem er an der Adria-Tour mitspielte? Oder gar Novak Djokovic, dem Veranstalter, der bis heute nur Bedauern, nicht aber Reue geäussert hat? Weder noch, sagt Dimitrov. «Es musste genau so passieren. Ich bin heute ein glücklicherer Mensch. Und unheimlich dankbar in Wimbledon spielen zu können.»