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Ich habe bei Olympia ein Privileg genossen. Nicht das Privileg, als akkreditierter Chronist Zugang zu allen Stadien und zu den sogenannten «Mix-Zonen» zu haben – dort, wo die Helden Red und Antwort stehen. Oder das Privileg, mich mit unseren Funktionären und sportlichen olympischen Lichtgestalten auseinandersetzen zu dürfen. Es ist ein anderes Privileg.
Ich musste nicht jeden Tag mit dem offiziellen Bus wie in einer Raumstation, isoliert vom richtigen Leben, vom Hotel ins Medienzentrum im Olympia-Park fahren. Ich durfte immer wieder den «Planeten Olympia» verlassen. Diese irreale Welt, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Und das hat mir ein wohltuendes olympisches Erlebnis beschert.
Nach ein paar Tagen hatte ich dank den modernen, im Hosentelefon eingebauten Navigationsgeräten, einen Fussweg vom Hotel zum olympischen Park und zum Medienzentrum gefunden. In der Regel sind die Hotels an solchen globalen Anlässen wie Olympischen Spielen zu weit weg von den Arbeitsorten, um die Strecken zu Fuss zurückzulegen. Aber in Rio war es möglich.
Fortan verzichtete ich auf den offiziellen Transport vom und zum Hotel. Eine gute halbe Stunde Fussmarsch, rund 7000 Schritte zwischen den Welten, die in Rio für ein paar Wochen aufeinandergetroffen sind. Ein Zusammenstoss der Welten, der glücklicherweise nicht so dramatische Folgen zeitigt wie in Immanuel Velikovskys gleichnamigem Buch über globale Katastrophen.
Erst bei gleissendem Scheinwerferlicht vom Medienzentrum – von wo aus es mit dem offiziellen Transport zu den einzelnen Arenen geht – durch den Parco Olimpico, dann über den von fröhlichen Menschen gesäumten Vorplatz. Nach und nach entschwinden die Lichter. Es bleibt nur ein Trottoir unter der fahlen Beleuchtung einer Schnellstrasse.
Entlang an den stacheldrahtgekrönten Mauern einer Militärbasis mit lässigen, schwer bewaffneten Wachposten, anschliessend auf einem Trampelpfad vorbei an einer Busstation, zerfallenden Häusern, verrotteten Reklametafeln und einer stinkenden Lagune, deren penetranter Gestank mich bis in den Schlaf hinein verfolgt und in den Kleidern haften bleibt. Und schliesslich bei einer Fussballschule um die Ecke zum Hotel.
Jeden Tag sind die olympischen Dramen und Triumphe durch die flüchtige Begegnung mit einer rauen Wirklichkeit relativiert worden. Im Hotel hat man mir von diesen Wanderungen abgeraten. «Sie sollten hier nicht zu Fuss gehen, nehmen Sie den Bus oder ein Taxi.» Ich bin trotzdem zu Fuss gegangen. Immer wieder sind mir bei später Heimkehr in der Nacht unterwegs Menschen begegnet. Ich habe freundliche, manchmal melancholische und traurige, aber nie in böse Gesichter gesehen.
Bei der Abreise – ich reise jeweils vor dem letzten Tag ab, um dem Chaos auszuweichen – habe ich im Taxi zwar meine beiden Koffer ausgeladen und den Fahrer mit dem restlichen brasilianischen Notengeld aus der Brusttasche meines Hemdes lässig und grosszügig bezahlt. Aber meinen Rucksack mit allen Kreditkarten, dem Portemonnaie, allerlei Papieren und dem Laptop auf dem Rücksitz vergessen. Was nun?
Ich wusste weder das Nummernschild des Autos noch Name oder Telefonnummer des Taxiunternehmens. Das Hosentelefon hatte ich noch. Die Botschaft oder das Hotel anrufen? Nein. Die Zeit, um dorthin zu gehen, war zu knapp. Es blieben mir nur noch rund anderthalb Stunden Zeitreserve. Ich sagte mir, dass der Fahrer meinen Rucksack bald bemerken und, von meinem grosszügigen Trinkgeld milde gestimmt, zurückkehren wird. Es war meine einzige Chance.
Also wartete ich dort, wo er mich am Flughafen abgesetzt hatte und schwitzte nicht nur wegen der heissen Sonne. Nach einer guten Stunde kehrte er zurück, fröhlich lachend und übergab mir den Rucksack. Er hat noch einmal ein Trinkgeld bekommen – und wollte es nicht einmal annehmen. Er hat es nicht wegen der Aussicht aufs Trinkgeld getan. Er war ganz einfach hilfsbereit.
Ich denke, auch das ist das wahre Brasilien. Es ist eine positive Lebenshaltung, die es erst möglich macht, einen schwierigen Alltag zu meistern. Es gibt nicht nur die brasilianische Wirklichkeit, die wir aus düsteren, aufgebauschten, auf Sensation zugespitzten Medienberichten kennen.
Nun habe ich mir vorgenommen, künftig darauf zu achten, freundlicher zu sein. Wenn Menschen freundlich und fröhlich sind, die es in ihrem Alltag unendlich schwerer haben, kann ich es auch. Nicht in der Beurteilung der Leistungen der SCL Tigers, der ZSC Lions oder des SC Bern natürlich. Aber im Alltag.