Der erste helvetische Doppelsieg in der zweitwichtigsten Töff-WM. Sensationell! Historisch! Und eigentlich gar nicht möglich. Die Schweiz ist ein Land ohne Rundstrecken und ohne Grosskonzerne, die den Motorradrennsport alimentieren. Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte helvetischer Eigenart. Und eines erstaunlichen Comebacks. Ein Blick zurück offenbart, wie unglaublich diese Geschichte eigentlich ist.
Vor 15 Jahren war der Schweizer Motorradrennsport am Ende. Es gibt eine Episode, die für dieses vermeintliche Ende aller eidgenössischen Töffherrlichkeiten steht. Jerez de la Frontera, im Frühjahr 2002. Die Töff-Gemeinde trifft sich vor der Saison zu Testfahrten in Südspanien. Schweizer sind erstmals seit Gründung der Motorrad-WM (1949) keine mehr dabei.
The Swiss fans are happy! 🇨🇭
— MotoGP™🇸🇲🏁 (@MotoGP) 10. September 2017
A brilliant ride from @DAegerter and a big day for Championship challenger @ThomasLUTHI at the #SanMarinoGP pic.twitter.com/14fepxMGoQ
Eine spanische TV-Station interviewt den langjährigen Westschweizer Töff-Chronisten Jean-Claude Schertenleib. Er sagt, man werde nie mehr einen Schweizer im GP-Zirkus sehen. Aus. Vorbei. Es gebe keine Rennstrecken im Land, die Kosten seien zu hoch und Geld lasse sich bei Firmen angesichts der hohen Affinität für Umweltschutz für das Sponsoring eines Wettstreites zwischen Verbrennungsmotoren kaum mehr finden. Noch einmal GP-Siege, gar Doppelsiege oder ein Weltmeister? Völlig unmöglich. Absolut ausgeschlossen.
Es schien, als bleibe uns nur das Schwelgen in Erinnerungen. Die Schweizer hatten in den 1960er-Jahren mit dem dreifachen Weltmeister Luigi Taveri Weltgeltung erlangt und sich bis Ende der 1980er-Jahre in der Weltspitze behauptet. Zeitweise fuhren mehr als 15 Schweizer in den verschiedenen Töff-WM-Klassen. Dann führte die Globalisierung der WM von sieben, acht Rennen in Europa auf über fünfzehn auf fünf Kontinenten und die damit verbundene Kostenexplosion und Professionalisierung zum Untergang.
Aber Jean-Claude Schertenleib täuscht sich. Nur drei Jahre später wird Tom Lüthi im Herbst 2005 Weltmeister und vor Roger Federer Sportler des Jahres. Und nun hat Dominique Aegerter vor Tom Lüthi das Moto2-Rennen in Misano gewonnen. Tom Lüthi hat nur noch neun Punkte Rückstand auf WM-Leader Franco Morbidelli. Er kann zum zweiten Mal Weltmeister werden.
Diese wundersame Rückkehr auf die Weltbühne ist eine Erfolgsgeschichte der Schweizer Eigenart: der Fähigkeit, sich in einem globalen Business durch Talent, Schlauheit, Hartnäckigkeit, Kreativität, gute Beziehungen und etwas Glück gegen die Mächtigen zu behaupten. Die Schweiz, das «gallische Dorf» des Töffrennsports.
Glückliche Umstände spielen bei dieser helvetischen Kraftrad-Renaissance auch eine Rolle. Tom Lüthi, ein Bauernbub aus Linden, einem Dorf mit 1277 Einwohnern am oberen Rand des Emmentals, wird im Herbst 2002, zum Zeitpunkt, als seine Eltern seine Karriere nicht mehr hätten finanzieren können, von Daniel M. Epp entdeckt. Der Baselbieter hat nach der Wende in Osteuropa ein Vermögen mit dem Handel von Autoersatzteilen gemacht. Er wird Förderer, Manager und Freund des «Töfflibuben».
2005 verkaufte der Baselbieter seine Firma und kümmerte sich seither nur noch ums Renngeschäft. Er hat listenreich einen Weg gefunden, um das Geld für eine internationale Töff-Karriere aufzutreiben: Die in Wien ansässige Sportwetten-Firma Interwetten ist seit Jahren Hauptsponsor. In der Schweiz ist Werbung für ausländische Sportwetten verboten. Die Sport-Toto-Gesellschaft verteidigt ihr Monopol mit Zähnen und Klauen. Aber Lüthi übt seinen Sport im Ausland aus.
Und in Rohrbach, in einem Dorf mit 1423 Einwohnern am unteren Rand des Emmentals, hat der Garagist Ferdinand Aegerter einen grossen Parkplatz vor dem Haus, und dort kurvt sein Bub Dominique auf einem Töffli herum, bevor er richtig laufen kann. Seine Karriere macht der Westschweizer Unternehmer Olivier Métraux möglich. Oliviers Vater Michel hat in den 1980er-Jahren unter anderem die Karriere von Jacques Cornu finanziert und als einer der damals einflussreichsten Männer im Fahrerlager die heutigen Strukturen im GP-Zirkus mitgestaltet. Der Sohn führt das Erbe seines verstorbenen Vaters weiter, und der Militärpilot fliegt im eigenen Jet zu den Rennen.
Dominique Aegerters Vater war als Garagist ein langjähriger Kunde der Firma Technomag, die zu Métrauxs Imperium gehört, und als er nicht mehr in der Lage war, die Karriere seines hochtalentierten Buben zu finanzieren, kam Olivier Métraux ins Spiel.
2015 und 2016 fahren Tom Lüthi und Dominique Aegerter sogar im gleichen Team («Töff-Dreamteam»). An dieser Belastung wäre Dominique Aegerter beinahe zerbrochen. 2014 war er schon einmal ganz oben und gewann den GP von Deutschland. Als unumstrittene Nummer eins im Team. Die Ankunft von Tom Lüthi veränderte alles. Er konnte mit dem «Lüthi-Komplex», der ständigen Präsenz seines Vorbildes und Idols im eigenen Team nicht umgehen. Im letzten Herbst kam es zum Eklat. Der Rohrbacher überwarf sich mit Teammanager Fred Corminboeuf, wurde gefeuert und konnte die letzten vier Rennen nicht mehr bestreiten.
Dominique Aegerter hat in Deutschland, im Team von Jochen und Stefan Kiefer Unterschlupf gefunden. Dort ist er im Laufe dieser Saison wieder der wahre, der echte, der wilde und doch sensible Rock’n'Roller geworden, der er vor der Ankunft von Tom Lüthi im Team war. Er hat sich durch Rückschläge und technische Pannen diese Saison nicht verunsichern und entmutigen lassen und nun mit dem zweiten GP-Sieg den grössten Triumph seiner Karriere gefeiert: Ein GP-Sieg vor Tom Lüthi, seinem Rivalen, Idol und Vorbild – nun ist er vom «Lüthi-Komplex»geheilt.
Dass nicht Jungs aus den urbanen Zentren, Zürcher oder Basler, sondern zwei «Landeier» – der Bauernbub Tom Lüthi und der Garagistensohn Dominique Aegerter – in einer der gefährlichsten und kapitalintensivsten Sportarten zu den Besten der Welt gehören, ist kein Zufall.
Wer sich in diesem Geschäft durchsetzen will, wer bei jedem Training und Wettkampf seine Gesundheit und sein Leben riskiert, muss mental «unzerstörbar» sein. Ungleich robuster als jeder Fussball- oder Eishockey-Star.
Der Rückhalt in einer starken, intakten Familie ist unerlässlich. Erst das Wissen, dass im schlimmsten Falle die Familie da sein wird, gibt Selbstvertrauen und Mut, um draussen in der weiten Welt alles zu riskieren und Heldentaten zu vollbringen.
The Swiss duo continue to wade through the rain as it pours down in Misano 💦 #SanMarinoGP pic.twitter.com/z5KA48RhDi
— MotoGP™🇸🇲🏁 (@MotoGP) 10. September 2017
Die Erziehung, wie sie im ländlichen Bernbiet noch üblich ist, hat den beiden Fahrern jene Eigenschaften mitgegeben, die sie davor bewahrt, in einem Zirkus der Eitelkeiten und Versuchungen den Boden unter den Füssen zu verlieren oder nachlässig zu werden: Mut, Zähigkeit, Beharrlichkeit – aber auch Bescheidenheit, Ruhe und Gelassenheit. Es sind die Eigenschaften, die bei vorlauten Aussenstehenden den Eindruck erwecken, Berner seien langsam.
Und Jean-Claude Schertenleib, der Prophet des Untergangs von 2002, ist noch immer dabei. Inzwischen wieder als Herold, um von den Heldentaten der Schweizer zu künden. Er kommentierte soeben den historischen Doppelsieg als TV-Experte fürs Westschweizer Fernsehen.