Tennis ist ein einsamer Sport. Kein Schlag, kein Ball, keine Situation ist mit der anderen zu vergleichen. Es gibt keine Halbzeitpause. Keinen Gong. Keine Auszeit. Keine Mitspieler, hinter denen man sich verstecken kann. Keine Uhr, die einen retten kann. Läufer kämpfen nebeneinander, Boxer Faust gegen Faust, Skifahrer nacheinander gegen die Uhr. Tennis aber ist ein Duell auf Distanz, dessen Ausgang bis zum letzten Schlag ungewiss ist. In dieser Unberechenbarkeit liegen Schönheit und Grausamkeit zugleich. Denn selbst der Sieger verliert meist die Hälfte aller Ballwechsel.
Tennis ist ein Spiel der Verlierer. Und der Tennissport inszeniert sich nach dem Bekenntnis von Naomi Osaka, an Depressionen zu leiden, als genau das. Verlierer seien die Japanerin selber, die French Open, von denen sie sich zurückgezogen hat, nachdem ihr mit Ausschluss gedroht worden war, weil sie die verpflichtenden Medientermine zum Schutz ihrer psychischen Gesundheit nicht wahrgenommen hatte, und der Sport als Ganzes. Es wird darüber debattiert, wie die 23-Jährige hätte vorgehen sollen. Wie das alles hätte verhindert werden können. Und dabei geht das Wesentliche unter.
— NaomiOsaka大坂なおみ (@naomiosaka) May 31, 2021
Denn Bekenntnisse, an Depressionen oder Angststörungen gelitten zu haben, gab und gibt es von Sportlerinnen und Sportlern immer wieder. Aber immer erst dann, als die Krisen überwunden waren. Das stärkte das Bild nach aussen und nach innen, nach dem Motto: Seht her, ich, der starke Sportler, habe es geschafft. Andere zerbrachen daran. An der Erkrankung selber. Aber auch an ihrem Wunsch, diese geheim zu halten. Wie der frühere Fussball-Torhüter Robert Enke, der 2009 Suizid beging. Vor den meisten seiner Teamkollegen hatte er sein Martyrium geheim gehalten.
Ja, Naomi Osaka ist die bestverdienende Sportlerin der Welt. Ja, sie äussert sich zu Themen wie sozialer Ungleichheit, zu Rassismus und Polizeigewalt. Weil sie sich Kraft ihrer Bekanntheit dazu verpflichtet fühlt, anderen das zu ersparen, was sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht: Denn als Tochter einer Japanerin und eines Haitianers, als dunkelhäutige Frau, ist sie von Mehrfachdiskriminierung betroffen. Etwas, das kein Geld der Welt aufwiegt. Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, wie es sich anfühlt, dieses Leben zu führen, Osaka zu verurteilen, oder Schuldige zu suchen.
Denn es gibt keine Schuldigen in dieser Geschichte. Nicht das Turnier, das die Regeln umsetzt und damit Chancengleichheit gewährleisten will. Nicht die Berater, die Osakas Interessen wahren. Und schon gar nicht Osaka selber, die mit ihrem Schweigegelübde nur sich selber schützen wollte. Ihre Erkrankung hat vielleicht viel weniger mit Medienkonferenzen zu tun als mit der hoch kompetitiven Welt mit der glitzernden Fassade, in der sie sich bewegt, weil sie eine herausragende Tennisspielerin ist. Und weil das, was sie am besten kann, zugleich das ist, was sie ihr am meisten schadet.
Osaka kämpft seit Jahren mit dieser erdrückenden Traurigkeit, die ihr in der Nacht den Schlaf raubt und sie am Tag in Angst versetzt. Sie beschrieb es einmal so, dass sie das Gefühl habe, gleich in Tränen auszubrechen. Nun benannte sie es öffentlich: Depressionen. Osakas öffentlicher Hilfeschrei ist für den Sport ein Meilenstein. Weil nur die Erkenntnis, dass auch Sieger von Depressionen betroffen sind, gegen die Stigmatisierung wirkt.
Deshalb ist Osakas Bekenntnis ein Sieg. Und bestimmt keine Niederlage.