England verliert den EM-Final gegen Italien nach Penaltyschiessen oder wie man auch immer mal wieder hört: in der Penaltylotterie. Schliesslich ist es ja Glückssache, ob sich der Schütze für die richtige Seite entscheidet. Das ist ein Irrglaube.
Im Penaltyschiessen entscheiden pures Talent und reine Nervenstärke. Das heisst, ein Trainer kann auch im Vorfeld des Penaltyschiessens richtige und falsche Entscheidungen treffen. Englands Coach Gareth Southgate hat bei der Wahl seiner Penaltyschützen gestern spektakulär versagt. Wie bereits 1996, als er gegen Deutschland den entscheidenden Penalty versiebte, ist er diesmal als Trainer mit der Wahl seiner Schützen für die Niederlage entscheidend mitverantwortlich.
In der 120. Minute wechselt Southgate Marcus Rashford und Jadon Sancho ein, um diese danach im Penaltyschiessen zur Verfügung zu haben. Schliesslich hat Sancho in seiner Profi-karriere drei Penaltys geschossen und alle verwandelt, Rashford kommt auf eine respektable Erfolgsquote von 12 aus 14 Versuchen.
Natürlich können diese beiden Spieler hervorragend Penaltys Schiessen, sie haben das Talent dazu. Die andere, viel wichtigere Komponente ist aber die Nervenstärke. Das war gut zu sehen bei Innenverteidiger Harry Maguire, der bestimmt nicht die beste Schusstechnik hat, den Ball aber mit viel Selbstbewusstsein so in den Winkel hämmerte, dass sogar die Torkamera kaputt ging.
Dieses Selbstvertrauen hatte weder Rashford noch Sancho. Marcus Rashford kam an dieser EM in sieben Spielen nur zu insgesamt 83 Einsatzminuten, Jadon Sancho zu 97. Im Halbfinal wurden beide nicht eingesetzt, im Final eben erst für das Penaltyschiessen eingewechselt. Das hat Auswirkungen auf das Selbstvertrauen. Da hast du in der Partie keinen Ball berührt und sollst dein Land dann per Penalty zum Titel schiessen? Man muss kein Professor sein, um zu ahnen, dass dies nicht der beste Plan ist.
Der dritte Fehlschütze, Bukayo Saka, durfte im Final zwar 49 Minuten lang ran. Ob es aber eine gute Idee ist, einem 19-Jährigen, der noch nie in seiner Profikarriere einen Penalty geschossen hat, die Bürde des letzten Elfmeters aufzuerlegen? War es nicht, wie wir gesehen haben.
Nach der Partie übernahm Southgate die Verantwortung für die Niederlage im Penaltyschiessen. Er habe die Spieler ausgewählt. «Ich habe auf Basis der Trainingsleistungen über die Elfmeterschützen entschieden», begründete er seine Wahl.
Sancho und Rashford seien dabei «die mit Abstand besten Schützen» gewesen. Auf die Frage, ob die beiden nicht etwas «kalt» waren, antwortete er: «Wenn man all seine Offensivspieler bringen will, muss man es spät machen. Das war riskant, aber wenn wir es früher riskiert hätten, hätten wir das Spiel vielleicht noch in der Verlängerung verloren.»
Das Interview von Gareth Southgate zeigt zwei Dinge ganz deutlich. Erstens, dass er ein wunderbarer Typ ist, der sich den Fragen stellt und das Rückgrat hat, die Verantwortung zu übernehmen. Es zeigt aber auch, dass ihm der Mut fehlt. Mit mehr Offensiv-Power hätte er das Spiel in der Verlängerung verlieren können, das stimmt. Was er dabei aber nicht bedenkt: Er hätte das Spiel auch in der Verlängerung gewinnen können.
Dass Gareth Southgate auf «Defense First» setzt, zeigte sich bereits in der Aufstellung. Wie schon beim Sieg gegen Deutschland im Achtelfinal stellte er eine Fünfer-Abwehrkette auf. Dazu die zwei defensiven Mittelfeldspieler Declan Rice und Kalvin Phillips. Und wie gegen Deutschland schien der Plan auch gegen Italien aufzugehen. Nach zwei Minuten traf der eine Aussenverteidiger Luke Shaw auf Vorlage des anderen Aussenverteidigers Kieran Trippier.
Solange die Aussenverteidiger hoch stehen, muss die Aufstellung ja nicht zwingend ultradefensiv interpretiert werden. Die ersten zwanzig Minuten von England waren beeindruckend, Italien war sichtlich verunsichert. Von der Atmosphäre im Wembley, aber vor allem auch vom selbstbewussten, aggressiven englischen Team.
Das war es dann aber auch mit der englischen Herrlichkeit. Die «Three Lions» verwandelten sich von brüllenden Löwen in sanft schnurrende Kätzchen. England zog sich komplett zurück, überliess Italien die Kontrolle über das Spiel. Italien kam am Ende auf 61 Prozent Ballbesitz, 20:6 Schüsse, 758:340 angekommene Pässe und hatte auch bei den «Expected Goals» einen klaren Vorteil (2,23 zu 0,60). Drei Statistiken zeigen besonders eindrücklich, wie harmlos die Engländer insgesamt agierten.
0 - Harry Kane didn't attempt a shot or create a chance for only the second time in his 61 games for England, with the other coming in a 29-minute substitute appearance against Switzerland in 2018. Squeezed. #ENG #ITA #EURO2020 pic.twitter.com/IaxPEZ7mJw
— OptaJoe (@OptaJoe) July 11, 2021
Im Angriff blieb England ungefährlich und vor allem in der zweiten Halbzeit drückte Italien immer mehr auf das 1:1 – der Ausgleich war nur noch eine Frage der Zeit. Er kam dann durch Leonardo Bonucci in der 67. Minute. Erst nach diesem sich abzeichnenden Ausgleich nahm Southgate erste Wechsel vor. Dabei sollte ein guter Coach agieren und nicht nur reagieren, wenn es bereits zu spät ist. Italien drückte in der Folge weiter, erst die verletzungsbedingte Auswechslung von Federico Chiesa nahm etwas Druck von England.
Das Tragische an der englischen Spielweise ist das Potenzial, das in der Mannschaft schlummert. Während Italien England auf dem Feld dominierte, schmorten hoch veranlagte Spieler wie Jack Grealish (eingewechselt in der 99. Minute), Sancho oder Rashford (zu) lange auf der Bank. Es war Southgate einfach zu riskant, sie einzuwechseln, um auch mal Druck auf Italien zu erzeugen, statt sich in der Defensive erdrücken zu lassen.
Southgate hatte gestern die richtige Startaufstellung gewählt. Er hat Italien damit überrascht. Doch sein Coaching während der Partie war schwach, am Ende wurde er von Mancini ausgecoacht. Der «Commissario Tecnico» hat Italien nicht nur zu einer Einheit geformt, er hat sich auch taktisch deutlich besser eingestellt als sein Gegenüber im EM-Final und so mit einer auf dem Papier schwächeren Mannschaft das Spiel dominiert.
Die Erfolge von Gareth Southgate sprechen eigentlich für sich. 2018 kam führte er sein Team in den WM-Halbfinal, nun in den EM-Final. Doch England konnte dabei selten überzeugen. An der WM 2018 war der Weg mit Kolumbien im Achtelfinal (Sieg nach Penaltys) und Schweden im Viertelfinal (2:0) nicht sonderlich schwierig. Dazu gab es damals insgesamt drei Niederlagen: in der Gruppe gegen Belgien, im Halbfinal gegen Kroatien und im Spiel um Rang 3 erneut gegen Belgien.
Und auch an der Euro 2020 hatte England in der K.o.-Phase bis auf den Achtelfinal gegen Deutschland (welches in dieser Verfassung sowieso nur knapp als Topteam durchgeht), mit der Ukraine und Dänemark nicht die ganz kniffligen Aufgaben.
Klar, auch diese Spiele muss man erst gewinnen (gell Frankreich, gell Holland). Und dennoch hat man beim Blick auf das englische Kader die Gewissheit, dass da viel mehr möglich wäre. Zwar hat Southgate die Defensive beeindruckend stabilisiert. Um «Es» endlich mal nach Hause zu bringen, ist das aber zu wenig. Denn man kann es drehen und wenden wie man will, man muss sagen, dass die Finalniederlage definitiv auf die Kappe von Gareth Southgate geht.
Betreffend Penalties: Man sieht meistens recht gut, wer trifft und wer nicht. Der erste Italiener der verschiesst, ist am züngeln, dass sogar Streller erblassen würde. Und ganz grundsätzlich, je dümmlicher der Anlauf, dessto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass der Schütze nicht verwandelt. Je mehr Minischrittchen, Getrippel und Verzögern, alles gugus. Bester Penalty war von Maguire: Mit roher Gewalt, Zorn in den Augen, vor Selbstbewustsein strotzend, absolut unhaltbar.
Was mich aber verwundert und ich auch G.S. in Schutz nehmen muss. England KANN dominieren (s. Endphase gg. Deutschland), Startphase gg. Italien und das auch mit der defensiven Aufstellung. Ich verstehe einfach nicht, wieso man offenbar zu wenig taktische Disziplin hat, diese Spielweise über längere Strecken oder zumindest Phasenweise wieder aufzuziehen. Am Talent kann es nicht liegen.
Ich fühle mich an Aktienmarktanalysten erinnert: Die können vergangene Entwicklungen auch immer super interpretieren. Bei der Zukunft haperts dann.