Es ist wieder so weit.
Menschen ohne den leisesten Schimmer von Fussball erscheinen im Ronaldo- oder Mbappé-Trikot zur Arbeit, gründen EM-WhatsApp-Gruppen oder hashtagen irgendeinen Hashtag, den man zur EM gerade hashtagt.
Und sie erdreisten sich zu fragen, wo man das Spiel am besten schaue. Oder noch schlimmer, wo man die Spiele in diesem Jahr am besten schaue.
Es gibt mehrere gute Antworten auf beide Fragen. Die guten beinhalten immer das Wort «zuhause»: mit der Familie zuhause, mit Freunden zuhause, beim Kollegen zuhause. Was die guten Antworten nie beinhalten: Public Viewing.
Die Probleme beim Public Viewing beginnen mit der Sicht (1) aufs Bild. Irgendeiner trägt immer diesen Fan-Filzhut, der meterhoch hinausragt und mindestens drei Zuschauerreihen die freie Sicht nimmt. Ältere Exemplare kann man ungefähr aus der Distanz riechen. Ein klassischer Deppendeckel.
Doch auch eine freie Sicht erhöht den Genuss nicht. Obwohl die menschliche Spezies vom Wunsch dominiert wird, Dinge zu verbessern – Autos sollen ökologischer werden, Essen gesünder, Maschinen schlauer – schmiert das Bild (2) beim Public Viewing immer noch wie Bob Ross in den 90ern. Immerhin konnte Ross knallige Farben.
Wie will man da beurteilen, ob er im Abseits stand, der Wixer?
Apropos Wixer: Wir leben in einer Zeit, in der jeder und jede und jedes gleich beleidigt ist. Verursacher werden konfrontiert und an den Pranger gestellt.
Kann man machen, die Stigmatisierung hat aber dazu geführt, dass sich die politische Inkorrektheit (3) allmählich nur noch im privaten Rahmen zelebrieren lässt.
Das soll keine Andeutung darauf sein, dass ich mich beim Fussballschauen benehme wie eine Sau.
Aber mit der politischen Inkorrektheit verhält es sich wie mit einem Auto: Zu intensives Nutzen ist schlecht für die Atmosphäre. Dass man in der Not aber darauf zurückgreifen kann, gibt ein Gefühl von Freiheit.
Anyway.
Public Viewing, das sind zugesuppte Toiletten (4), Warteschlangen und leere Klorollenspender. Das erträgt man nur nach ein paar Plastikbechern (5) vom offiziell erlaubten EM-Bier (6), das man zu Wucherpreisen (7) erwerben darf, wenn man gewillt ist, beim Anstehen (8) den herrlichen Anschlusstreffer zu verpassen.
Und dann diese Horde (9): Der eine flext und reibt seinen Body, als ginge es um eine Rose der Bachelorette. Die obligate Exhibitionistin mit riesiger Sonnenbrille, aber umso kleinerem Bikini personifiziert, was ich denke: «Public Viewing, my ass.» Und der Drogenkurier macht auf seinem Damenvelo mehr Kilometer als Widmer auf der rechten Seite.
Wie will man da beurteilen, ob er im Abseits stand, der Wixer?
Kann man für all diese Zeitgenossen noch gewisse Sympathien aufbringen? Ja. Aber das Ende der Toleranz ist mit dem Falschschreier (10) erreicht.
Schon beim Einlaufen der Teams wirkt er total aufgekratzt. Legt sich der gegnerische Torwart den Ball für den Abstoss zurecht, kreischt er in Ekstase. Ausserdem glaubt er, «ine mit em Bölä!» sei ein veritabler Schlachtruf.
Dass seine Aufheuler asynchron zum Spielverlauf sind, merkt er nicht. Schon bei den Marschübungen in der RS verzweifelte der Leutnant an seinem Passgang – im Kino lacht er seit Jahren im falschen Moment.
Fussball ist der perfekte Sturm. Das Auf und Ab der emotionellen Wogen ist in keiner anderen Sportart so austariert. Eishockey ist ein zu wütendes Donnerwetter, bei dem man nie weiss, wo und wann der Blitz einschlägt. Beim Football und Basketball wiederum ist der Wellengang zu flach.
Ein Falschschreier steht der natürlichen Dynamik dieses wunderbaren Spiels quer, zerstört dieses Setting wie ein Wellenbrecher.
Nein. Wenn man schon mit anderen Leuten Fussball schauen muss, dann mit solchen, die auch mindestens 1000 Stunden Fussball intus haben.
Public Viewing ist die Eventisierung eines Ereignisses (11), das keine Eventisierung nötig hat. Public Viewing macht Fussballschauen zur Bühne für Selbstdarsteller, Feierlaunige und Frotteure – nicht aber für Liebhaber, die mit Akribie und Konzentration die unendlichen Tiefen dieses wunderbaren Spiels ergründen wollen. Nur so kann man nämlich lange vor dem VAR erkennen:
Er stand drei Meter im Abseits. Der Wixer.
Dieser Text erschien in ähnlicher Form bereits vor sechs Jahren zur WM 2018 in Russland. Der Autor steht aber auch heute noch zu diesen Zeilen.
Der Grund Nummer 1 für Public Viewing ist und bleibt die Geselligkeit. Der Match selbst ist für mich dann oft die nette Nebensache.