Der reisende Chronist kennt die Geschichten über all die Ungereimtheiten rund um die WM-Vergabe nach Katar. Er kennt aus Gesprächen mit hochrangigen Katarern auch ein wenig die Argumente und Innenansichten der Gegenseite.
Unter welchen Bedingungen die Stadien tatsächlich gebaut werden, weiss er nicht. Weil ihm Lust und Zeit gerade während der Eishockey-Playoffs fehlen, sich wochenlang auf einer Baustelle zu verdingen, um die Missstände aufzudecken, wie einst Günter Wallraff in deutschen Landen. Er wagt bloss die Anmerkung, dass es auf den Baustellen für die Stadien und die olympischen Bauten in Brasilien, Russland und Peking kaum besser war beziehungsweise ist.
Was die Finanzierung angeht: Niemand durchschaut die Finanzströme im Morgenland. Bestechung dürfte im Spiel gewesen sein. Aber inzwischen wissen wir ja, dass nicht einmal die Vergabe der WM 2006 nach Deutschland «sauber» war. Vermutlich ist die Vergabe des Eidgenössischen Schwingfestes durch die Abgeordnetenversammlung des Eidgenössischen Schwingerverbandes die einzige Sportveranstaltung der Welt, die demokratisch und transparent vergeben wird.
Katar ist ein Staat mit weniger als drei Millionen Einwohnern, der sich die WM leisten kann ohne andere staatliche Ausgaben kürzen zu müssen. Hier geht die WM weniger auf Kosten des eigenen Volkes als in Südafrika, Brasilien oder Russland. Aber eben: Dem reisenden Chronisten ist es nicht möglich, die Staatsfinanzen, die staatlichen Dienstleistungen (der Service Public) für die einfachen Bürgerinnen und Bürger und die WM-Finanzierung in Südafrika, Russland, Brasilien und Katar auseinanderzudividieren.
Und schliesslich und endlich spart sich der reisende Chronist auch die Debatte über Menschenrechte in Katar. Er denkt bloss, dass es damit in Südafrika, Brasilien, Russland und China auch nicht viel besser sein dürfte. Aber er weiss es nicht.
Was dem reisenden Chronisten hingegen möglich ist: sich einfach vor Ort einen Eindruck zu verschaffen, frei von allen Vorurteilen. Er kann sich ja hier ungehindert und unbeaufsichtigt bewegen und gehen, wohin er will. Und nach mehr als zehn Reisen in diese Ecke des Morgenlandes ist der reisende Chronist zum Schluss gekommen: Diese WM 2022 wird die perfekteste aller Zeiten. Aber ohne jede Fussball- oder sonstige Sport-Romantik. Wenn also nicht die beste im Sinne der Romantiker, dann doch die perfekteste WM, die es je gegeben hat.
Sportereignisse wie eine Fussball-WM verbinden wir mit Fussballkultur. Das ist so selbstverständlich wie im Mittelalter die Verbindung von Kirche und Staat. Das Spiel draussen auf dem Rasen ist also nur ein Teil eines Ganzen.
In Katar werden wir zum ersten Mal die gänzliche Trennung von Fussball und Kultur erleben, sozusagen eine Trennung von Kirche und Staat. Eine säkulare WM.
Eine Fussballkultur gibt es in Katar nicht. So wenig wie eine Eishockeykultur in Rio oder eine Skikultur in Namibia. Der reisende Chronist hat den Eindruck, dass hier sportlich nur Kamelrennen wirklich faszinieren. Ist das ein Nachteil? Nein. Es ist, je nach Sichtweise, ein faszinierender oder unheimlicher, verstörender Vorteil.
Zum ersten Mal wird eine WM im Grossraum einer einzigen Stadt ausgetragen. Was ökonomisch und ökologisch modern und sinnvoll ist. Es wird nicht notwendig sein, dass Mannschaften und der ganze Tross über hunderte, ja tausende von Kilometern von Stadt zu Stadt geflogen werden. Und die Energie, um alles zu kühlen und zu beleuchten wird vor Ort gewonnen. Katar ist einer der wichtigsten Erdgasproduzenten der Welt.
Wer die WM 2022 erleben will, bucht ein Hotelzimmer für die ganze Dauer der WM und kann von dort aus jeden Tag – so er will – bis zu drei Spiele sehen. Die Stadien kann er alle mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Eine benzinverbrennende Kutsche braucht er nicht, einen Flugapparat erst recht nicht.
Doha, die Hauptstadt von Katar, mahnt an eine Raumstation, die mit einer unheimlichen Dynamik ausgebaut wird. Mit ziemlicher Sicherheit ist seit dem Aufschichten der Pyramiden nie mehr eine solche emsige Bautätigkeit entfaltet worden.
Aber keine Bäume müssen gefällt, keine Sümpfe trockengelegt, keine Flüsse umgeleitet, keine Naturräume zerschnitten, keine Berge durchbohrt oder abgetragen und keine Schluchten überwunden werden. Anders als bei nahezu allen grossen Sportveranstaltungen (Ski-WM inklusive) gibt es hier keine Umweltschäden.
Doha ist eine Stadt in einem gigantischen, flachen Sandkasten. Hier kann gebaut werden, als sei es ein Spiel im Sandkasten. Von Jahr zu Jahr verändert sich das Gesicht der Stadt. Wo es vor einem Jahr noch wüst und leer war, stehen ganze Stadtteile. Elendsviertel gibt es hier so wenig wie in Disneyland.
In diese auf eine eigenartige Weise unwirkliche Welt kommt nun die Fussball-WM. Nie zuvor ist eine internationale Sportveranstaltung so bis ins Detail geplant und durchorganisiert worden. Ingenieure berechnen sogar die Zuschauerströme und wissen genau, wie viele Menschen wie lange von Punkt A zu Punkt B brauchen.
Die Überwachung wird eine totale sein. Eine Fussball-WM ganz im Sinne von George Orwell. Weil es keine Anreise auf dem Landweg geben wird, kommt kein Mensch nach Katar, der nicht genehm ist und dessen Name und Sündenregister nicht bekannt sind. Wir werden die erste WM der Neuzeit ohne Hooligans erleben.
Selbst das mediale Geschrei wegen der Hitze ist übertrieben. Der Reisende war schon zu allen Jahreszeiten hier. Die klimatischen Bedingungen waren bei der WM 1970 in Mexico mit ziemlicher Sicherheit mindestens so schwierig. Aber klar: Fussball ist heute schneller, athletischer und anstrengender. Der reisende Chronist hat gut reden. Er muss in Katar nicht in kurzen Hosen draussen herumrennen.
Wird Katar eine «sterile» WM? Zweifellos. Aber diese WM wird uns einen Blick in eine gar nicht mehr so ferne Zukunft erlauben. Eine Sportveranstaltung wird nicht mehr für die Zuschauer vor Ort, nicht mehr als Bestandteil einer lokalen Kultur, nicht mehr als völkerverbindendes Fest gefeiert und gelebt. Ein globales Sportereignis ist nur noch eine reine Inszenierung, die über die verschiedensten Kanäle (die klassischen TV-Stationen werden die unwichtigsten sein) in die ganze Welt verbreitet wird. Als gewaltige Vergnügungs-, Werbe- und Geldmaschine. Der Zuschauer vor Ort ist nicht mehr erforderlich, Stimmung kann mit moderner Technologie künstlich erzeugt werden. Zugelassen wird vor Ort nur noch, wer den Ablauf nicht stört.
Es wird fast so sein, als werde in Katar eine WM in einem gigantischen Filmstudio inszeniert. Katar wäre auch in der Lage, auf gleiche Art und Weise Olympische Sommerspiele zu veranstalten. Und mit ziemlicher Sicherheit kommt die Zeit, in der so teure globale Sportfeste nur noch nach diesem Muster und in Staaten wie Katar organisiert und finanziert werden können.
Olympische Winterspiele in Katar? Ich würde nicht einmal mehr dagegen wetten. Schliesslich können hier problemlos sämtliche Eissportarten veranstaltet werden.