So gross waren die Hoffnungen. Weltmeister wollte Patrick Fischer werden. Und warum nicht? Was 2016 als «Pausenplatz-Hockey» begonnen hat, ist inzwischen eine international respektierte, ja bewunderte Stilrichtung geworden. «Totales» Hockey. Mit diesem gut strukturierten, mutigen, schnellen Offensivhockey sind wir schon 2018 beinahe Weltmeister geworden. Auswärts. In Kopenhagen.
Es gab keinen Grund, warum jetzt, vor eigenem Publikum, mit unserem offensiv besten WM-Team der Geschichte, mit Roman Josi, Nico Hischier, Timo Meier und Pius Suter, dem Topskorer der heimischen Meisterschaft, der WM-Titel nicht das Ziel hätte sein sollen. Und mit dem Rückhalt von Leonardo Genoni und Reto Berra.
Die Erwartungshaltung war also ähnlich wie 2009 vor der letzten WM in unserem Land in Bern und Kloten. Nationaltrainer Ralph Krueger stand damals wohl wegen einer zu taktischen Spielweise («Football on Ice») da und dort in der Kritik.
Und die Zielsetzung war ein bisschen bescheidener – die Schweiz galt 2009 als taktisch beste Nationalmannschaft. Aber noch fehlte das Talent, um offensiv dominieren zu können. Und seit 1953 hatten wir nie mehr eine Medaille geholt. Die offensiven Flugjahre sollten erst 2013 beginnen. Das Erreichen des Viertelfinals galt als Minimalziel. Der grosse Hoffnungsträger war der NHL-Verteidiger Mark Streit (NY Islanders).
Es reichte nicht einmal für den Viertelfinal und als Ausrede kreierte Ralph Krueger den Begriff «Heimnachteil». Tatsächlich scheiterten die Schweizer in erster Linie an den hohen Erwartungen. Also am «Heimnachteil».
Eine WM im eigenen Land unterscheidet sich fundamental von einem Turnier im Ausland. Fern der Heimat wächst ein WM-Team in einer gewissen Isolation eher zu einer verschworenen Gemeinschaft und die äusseren Einflüsse sind geringer. Im eigenen Land ist es fast unmöglich, sich den Erwartungen zu entziehen, im gesamten persönlichen Umfeld der Spieler beginnt die Spannung schon Wochen vor dem Turnier. «Heimnachteil» eben.
Das gilt für alle. In diesem Jahrhundert hat der Gastgeber erst ein einziges Mal die WM gewonnen (Schweden 2013). Die Slowakei hat bei der Heim-WM 2011 und 2019 sogar den Viertelfinal verpasst. Es gibt ihn tatsächlich, den «Heimnachteil».
Dieser Dämon «Heimnachteil» ist den Schweizern erneut zum Verhängnis geworden. Er hat die Offensivkraft gelähmt. Die heftige Kontroverse über Patrick Fischers Coaching und die Torhüterleistung (der Treffer beim 0:1 gegen die Slowakei war für Leonardo Genoni haltbar, der Schuss war ein Befreiungsschlag aus der Zone der Slowaken) erübrigt sich, die Empörung über die «Nacht im Niederdorf» ist nichts als billige Polemik und die Kritik an Raphael Diaz, Roman Josi, Nico Hischier, Timo Meier und Pius Suter im höchsten Masse ungerecht.
Patrick Fischer ist der gleichen Versuchung erlegen wie Ralph Krueger 2009. Er hat seine besten Spieler zu stark forciert. 2009 ging es vor allem um Mark Streit. Aber jetzt hatte Patrick Fischer mehrere Weltklassespieler. Er hat getan, was jeder Coach der Welt tut, wenn es «harzt»: Er schickt die Besten aufs Eis, um die Entscheidung zu erzwingen. Erst recht vor eigenem Publikum.
Aber in der zweiten Hälfte der Gruppenphase und vor allem im Viertelfinal gegen die Slowakei fehlte die Energie. Immerhin reicht es für statistische Rekorde. Roman Josi hatte am meisten Eiszeit pro Spiel, seit es diese Statistik gibt (46:01 Minuten). Er war im Viertelfinal der erste Verteidiger seit Ted Snell (Langenthal/1980), der im Profihockey während einer ganzen Partie durchgespielt hat.
Und nie zuvor hatte ein Mittelstürmer bei einer WM so viel Eiszeit wie Nico Hischier (30:13 Minuten) und Timo Meier hält nun den WM-Rekord für Flügelstürmer (29:59 Minuten). Für Raphael Diaz (32:32 Minuten) und Pius Suter (28:29 Minuten) reicht es zu WM-Rekordmarken für «Nicht-NHL-Spieler». Und Timo Meier ist mit 11 Pfostenschüssen der WM-Torschützenkönig der Herzen.
Roman Josi gehörte zwar letzte Saison zu den meistbelasteten NHL-Verteidigern (29:37 Minuten pro Spiel). Aber auf dem kleineren NHL-Eisfeld sind lange Präsenzzeiten viel besser verkraftbar als auf den grossen europäischen Spielfeldern. Hier sind die Wege länger und das Tempo der Spiele ist auf WM-Niveau konstant hoch.
Patrick Fischers Coaching ist tatsächlich ein wichtiger Grund für das Scheitern. Dafür ist er nicht zu tadeln. Hätte er unsere Stars weniger eingesetzt, hätte es geheissen, das Scheitern sei kein Wunder, wenn einer nicht den Mut habe, auf die besten Spieler zu setzen.
Unser Nationaltrainer ist jetzt bereit für die NHL. Nur ein Jahr nach der so enttäuschenden WM von 2009 in Bern und Kloten wurde Ralph Krueger im Sommer 2010 Associate Coach bei den Edmonton Oilers und er begann seine ganz grosse internationale Karriere, die ihn sogar an die Spitze eines Fussballunternehmens in der Premier League in England, der wichtigsten Fussballliga der Welt, bringen sollte.
Und noch etwas zur nach wie vor anhaltenden, heftigen, ja giftigen Polemik um die «Nacht im Niederdorf». Sie ist landesweit seit Tagen Gesprächsthema Nummer 1. Nach den zwei bitteren Niederlagen gegen Norwegen (0:2) und Italien (1:2 n. V.) folgte eine Gruppe von Spielern der Einladung von Reto von Arx, Mathias Seger und Marcel Jenni zu einer Beizentour durch Zürich, die erst in den Morgenstunden im Niederdorf zu Ende ging. Patrick Fischer musste am nächsten Tag das Training vorzeitig abbrechen. Die Resultate des vom Mannschaftsarzt angeordneten Blut-Alkoholtestes werden nach wie vor unter Verschluss gehalten.
Natürlich konnte diese Sauftour nicht geheim bleiben. Inzwischen gibt es in den sozialen Medien mehr als 1000 Fotos und Filmchen, die von Fans hochgeladen worden sind. So ist das halt in den Zeiten der Smartphones.
schaut mal, wer heute auch im ausgang war (sorry wegen unscharf) #KügeliWm2020 pic.twitter.com/s1OJsD2XBV
— zuercher_534364 (@Z534364) May 22, 2020
Aber der tüchtige Verbandspräsident Michael Rindlisbacher schiesst weit übers Ziel hinaus. Er hat den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) beauftragt, alle Bilder auszuwerten, um endlich zweifelsfrei herauszufinden, welche Spieler sich tatsächlich an dieser Sauftour beteiligt haben. Das und nicht die wilde Party ist der eigentliche Skandal, der den grossen Vorsitzenden das Amt kosten kann.
Es darf nicht sein, dass mehr als 60'000 Franken ausgegeben werden (so hoch wird die Rechnung mindestens ausfallen, es kann ja nicht sein, dass der Steuerzahler für die Kosten aufkommt), nur um zweifelsfrei herauszufinden, wer da um die Häuser gezogen ist.
Dieser Aufklärungs-Wahn könnte zu einem Eigentor werden. Inzwischen sind nämlich Bilder aufgetaucht, die auch die WM-Generäle Gian Gilli und Ueli Schwarz sowie IIHF-Präsident René Fasel beim Feiern zeigen. Noch schlimmer: Die «WOZ» berichtet, der NDB habe Filmchen mit unerhörten Respektlosigkeiten gefunden.
Die harmloseste sei noch, wie die Bundesräte Guy Parmelin und Ueli Maurer Roman Josi und Reto von Arx zuprosten. Aber es seien Schmähgesänge gegrölt worden wie: «Die Grünen und Linken von Zürich sind uns wurscht, jetzt drinken wir über den Durscht».
Ja, man habe sogar die Niederdorf-Oper verballhornt und gesungen: «Die am Herd hät Flüüger kauft, jetzt wot der Ueli, dass ou am Bode öppis lauft». Und deutlich sei ein Trinkspruch zu hören: «Was mehr hüt versuufe u verprasse, üse Ueli zauts us der Bundeskasse». Und als ganz besondere Respektlosigkeit wird gewertet, wie Schwarz unseren Finanzminister mit dem launigen Spruch: «Chum bis ke Frosch, jez nämer no ä doppelte Ueli» zum Trinken animiert habe.
Die «Weltwoche» hat enthüllt, dass das kompromittierende Material von Bundesanwalt Michael Lauber der «WOZ» zugespielt worden sei. SVP-Nationalrat Roger Köppel hat jedenfalls den Nachrichtendienst bereits zur absoluten Geheimhaltung aufgerufen. Regula Rytz von den Grünen und der SP-Selbstdarsteller Matthias Aebischer fordern hingegen eine «PUK Niederdorf» unter dem Präsidium von alt Bundesrat Moritz Leuenberger. Zieht da ein veritabler Politskandal herauf? Wird die «Nacht im Niederdorf» für die SVP, was Watergate einst für die Republikaner?
Wegen der heftigen Polemik um diese ganz besondere Nacht hat sich Michael Rindlisbacher auch noch zur Ankündigung verführen lassen, jeder Spieler, der auf den Fotos und Filmchen erkannt werde, müsse mit einer Busse von 25'000 Franken rechnen, und den Chronisten, die dabei waren, werde auf Lebzeiten die Akkreditierung für Länderspiele verweigert.
Nationaltrainer Patrick Fischer hat nun seinen Kumpel Mark Streit gebeten, den aufgebrachten Präsidenten zur Räson zu bringen. Sozusagen von Berner zu Berner. Mark Streit sitzt ja im Verwaltungsrat des Verbandes und vielleicht vermag der betörende Charme seiner Gattin Fabienne, das Herz des gestrengen grossen Vorsitzenden zu erweichen. Zudem erstellt HCD-Präsident Gaudenz Domenig ein Rechtsgutachten, um aufzuzeigen, dass der Verbandspräsident gar nicht befugt ist, Massnahmen zu ergreifen, und das Bildmaterial nicht zur Beweisführung verwendet werden darf.
Die «Niederdorf-Nacht» ist also kein Skandal. Und die Spieler sind auch keine «Landesverräter», wie der «Blick» polemisierte. Diese Nacht ist vielmehr ein gutes Zeichen. Die Frustration nach den zwei schmählichen Niederlagen musste einfach raus. Eishockey ist ein Spiel der rauen Kerle und die lassen Dampf nicht durch Yoga-Übungen bei Ingwer-Tee ab. So war es schon immer und so wird es immer sein. Diese Episode – und mehr als eine Episode ist es nicht – zeigt, dass diese Mannschaft intakt ist und lebt.
Vier Jahre nach der so enttäuschenden Heim-WM 2009 standen die Schweizer 2013 im Final. Alles spricht dafür, dass wir spätestens 2024 wieder im Final stehen. Und immerhin ist diese WM dem offiziellen Motto «Let’s Make History» voll und ganz gerecht geworden. Wenn auch nicht ganz im ursprünglich gedachten Sinne.
Wenns rockt und rollt im Jahr 2020.