Die Leichtathletik-Fans reiben sich die Augen: Was ist mit Jason Joseph passiert? Nach einem Seuchenjahr 2024 gewinnt der Baselbieter Hürdensprinter in dieser Saison mir nichts, dir nichts in Rom in der Diamond League, läuft in Paris Schweizer Rekord (13,07) und glänzt in der ersten Saisonhälfte mit einer noch nie gesehenen Konstanz.
«Ich habe meine Einstellung komplett geändert», sagt der 26-Jährige vor dem Meeting in Luzern pathetisch. Und dass dieses neue Mindset den erhofften Effekt zeitigt, habe ihm mächtig Selbstsicherheit verliehen. Mit jedem Topresultat wachse das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Josephs ungemeines Talent und herausragendes Potenzial kennt man seit geraumer Zeit. 2018 krallt er sich als 20-Jähriger den zehn Jahre alten Schweizer Rekord (13,39). 2023 kommt der 1,92 m lange Modellathlet dann definitiv in der Weltelite an, wird Hallen-Europameister und verbessert seinen Schweizer Rekord über 110 m Hürden innert drei Monaten vier Mal.
Joseph parliert von einer Zeit unter 13 Sekunden, zeigt aber in den direkten Duellen gegen die Weltbesten zu oft zu viel Respekt, dafür in den Interviews nach den Rennen gnadenlos viel Kritik sich selbst gegenüber. Das sei Teil seines Charakters, sagt der Baselbieter. «Ich bin nicht der Typ, der etwas schönredet. Und es gab ja auch wirklich genügend Gründe für diese Selbstkritik, denn ich war selbst schuld daran, wenn ein Rennen in die Hosen ging.»
Jason Joseph erklärt, was es mit seiner Wandlung auf sich hat. «Früher war ich vor und während des Rennens in Gedanken bei meinen Gegnern. Ich schaute genau, wie sie sich vor dem Wettkampf verhalten, was sie während des Rennens tun. Und verlor dadurch meinen Fokus.»
Nun habe er gelernt, die Konzentration voll und ganz auf sich zu richten. Er sagt lapidar: «Manchmal geht es bei mir halt etwas länger, bis ich etwas kapiert habe. Aber meine reflektierte und selbstkritische Art hilft mir, letztlich die richtigen Schlüsse zu ziehen.»
Josephs Schwäche ist der Start. Noch im vergangenen Jahr hatte er danach das Gefühl, den eingefangenen Rückstand so rasch wie möglich aufholen und dadurch «über mich hinauswachsen zu müssen». Dabei schielte er mit einem Auge stets darauf, wie weit vorne die anderen rennen. Und verkrampfte sich dabei regelmässig. Heute wisse er: «Unterwegs überholt mich keiner, höchstens ich sie. Ich bin der Jäger, der die anderen nervös macht. Nicht umgekehrt.» Er müsse in den ersten Hürden «schlicht meine Arbeit erledigen und sauber laufen – bevor dann der Spass beginnt».
Die wichtigste Änderung nach einer frustrierenden Saison 2024 passierte bei Jason Joseph also im Kopf. Gearbeitet daran habe er trotz Unterstützung durch einen Mentalcoach primär selbst. «Meine Trainerin und mein Mentalcoach können mir zwar die Richtung weisen, den Weg finden kann aber letztlich nur ich», sagt der Sportler mit schweizerisch-karibischen Wurzeln.
Im Herbst sei er über die Bücher gegangen und habe sein Verhalten rund um die Wettkämpfe reflektiert. «Mir ist dabei bewusst geworden, dass meine letzte Erinnerung vor dem Startschuss stets der Gedanke an einen Konkurrenten war. Ich war viel zu wenig bei mir.»
Joseph spricht von einem Reifeprozess, den er durchmachen musste, bevor ihm dieser Wandel in der Einstellung gelungen sei. Er habe Zeit seiner Karriere im eigenen Land nie Konkurrenz gespürt und im Nachwuchs auch europäisch zumeist dominiert. Beim Eintauchen in die Welt der besten Hürdensprinter des Planeten habe er dann viel zu viel Respekt und Bewunderung gezeigt, «anstatt mein Ding durchzuziehen».
Jetzt aber sei er in diesem Club voll dabei: «Ich habe bewiesen, was ich kann.» Nach dem ärgerlichen Hürdenstolperer zuletzt am Freitag in Monaco will Jason Joseph in Luzern zurückschlagen. Im letzten Rennen vor seinem vierwöchigen Trainingsaufbau im Hinblick auf die WM in Japan möchte der Schweizer Rekordhalter nochmals zeigen, was für Zeiten er aktuell in den Beinen hat.
Gefordert wird der Baselbieter auf der Allmend vom momentan konstantesten Hürdensprinter Trey Cunningham. Der US-Athlet gewann zuletzt in Paris und in Monaco, zeigt seit seinem öffentlichen Outing als Homosexueller im vergangenen Sommer auch auf sportlicher Bühne eine bemerkenswerte Lockerheit.
Stressen von einem Gegner oder einer zeitlichen Vorgabe will sich Jason Joseph aber nicht. In dieser Saison zähle einzig die WM im September in Tokio. «Alles, was jetzt passiert, dient der Vorbereitung darauf.» Auch nach seinem Sieg in Rom habe er sich nur wenige Stunden im Erfolg gesonnt. «Spätestens im nächsten Training hat das nichts mehr gezählt.» (riz/aargauerzeitung.ch)