Josh Kerr heisst der neue Weltmeister über 1500 m. In Budapest setzte sich der Schotte überraschend durch – und verhinderte so erneut den WM-Titel des Olympiasiegers über diese Distanz, Jakob Ingebrigtsen. Im Vorjahr an der WM in Eugene unterlag er Jake Wightman, Kerrs Klubkollegen in Edinburgh.
Es dürfte im Stadion und vor den Fernsehgeräten manch einen gegeben haben, der sich am Mittwochabend über das Scheitern Ingebrigtsens mehr oder weniger heimlich gefreut hat. Denn im Halbfinal hatte sich der 22-Jährige aus Sandnes den Zorn vieler zugezogen, als er mit Gegnern und Publikum spielte. Ingebrigtsen winkte energisch in Richtung Tribüne und zog dann an den anderen vorbei zum lockeren Sieg. Eine Show-Einlage, die in der braven Leichtathletik-Welt nicht gut ankam.
Die Niederlage im WM-Final begründete Ingebrigtsen, der in dieser Saison jedes seiner Rennen über 1500 m gewonnen hatte und das teils mit Fabelzeiten, unter anderem mit gesundheitlichen Problemen. Es sei schwierig, 100 Prozent zu geben, wenn man sich nicht 100 Prozent fit fühle. Er sprach von einem «trockenen Hals» in den vergangenen Tagen.
Schon etwas länger begleiten Jakob Ingebrigtsen familiäre Schwierigkeiten. Seine Brüder Henrik und Filip, ebenfalls Mittelstreckler von Weltklasse-Niveau, und er haben sich mit ihrem Vater überworfen.
Gjert Ingebrigtsen war es, der seine drei Söhne trainiert und zu Medaillengewinnern bei Grossanlässen geformt hatte. Weshalb es vor rund eineinhalb Jahren zum Bruch kam, ist bislang unklar geblieben. Jakob Ingebrigtsen erwähnte in der «New York Times» die manchmal aufbrausende Art seines Vaters; dessen Unruhe, die auf alle um ihn herum abfärben könne.
Dieser Tage weilt Gjert Ingebrigtsen dennoch in Budapest – als Trainer eines anderen Norwegers. Sein Schützling heisst Narve Gilje Nordas und der hätte Jakob Ingebrigtsen um ein Haar noch die Silbermedaille weggeschnappt. Als der Superstar seine Niederlage realisierte, zog er wohl nicht mehr voll durch, Nordas kam noch bis auf drei Hundertstel heran und gewann Bronze. Es war seine erste Medaille an einem Grossanlass.
Wegen der Zusammenarbeit mit seinem Vater ist Nordas für Ingebrigtsen zu einem Paria geworden. Laut dem «Tages-Anzeiger» verliess Nordas das Teamhotel, um ins Hotel von Gjert Ingebrigtsen zu ziehen, der in der Unterkunft der Norweger nicht erwünscht ist. Ihre Beziehung sei «ein wenig frostig», sagte Narve Gilje Nordas über ihn und Jakob Ingebrigtsen. «Ich habe ihm im Ziel zu Silber gratuliert und er hat mir die Hand gegeben. Das ist schön.»
Noch fehlen Nordas zwei Sekunden zur Bestzeit von Jakob Ingebrigtsen, der mit 3:27,14 den Europarekord über 1500 m hält. Vielleicht ist die Beziehung zwischen den beiden jungen Norwegern auch deshalb distanziert, weil der Etablierte genau weiss, was sein Vater aus einem Talent herausholen kann. Und weil er sich davor fürchtet, seinen Platz an der Sonne zu verlieren. Die norwegische Zeitung «Verdens Gang» äusserte die Hoffnung, dass die teaminterne Konkurrenz die beiden Athleten beflügelt: «Das könnte für Norwegen in der Zukunft viel Gutes bedeuten.»
Möglicherweise kann Jakob Ingebrigtsen in Budapest doch noch Weltmeister werden. Über 5000 Meter winkt ihm eine zweite Chance, über diese Distanz ist er der Titelverteidiger. Nach der Niederlage über 1500 m liess er offen, ob er antreten wird. Die Vorläufe sind bereits heute Abend.