Was als sportliches Märchen begann, endet in einem öffentlichen Streit zwischen den Ingebrigtsen-Brüdern und ihrem Vater. Im Zentrum stehen schwere Vorwürfe – und eine Familie am Abgrund.
Jakob Ingebrigtsen ist einer der grössten Leichtathletik-Stars der Gegenwart. Der 24-jährige Norweger gewann in Tokio Olympia-Gold über 1500 m. Er legte im vergangenen Sommer nach, als er in Paris erneut Olympiasieger wurde, dieses Mal über 5000 m, wo er auch zweifacher Weltmeister ist.
Nicht nur die Laufdistanz änderte sich zwischen Japan und Frankreich. Zwischen den beiden Olympischen Spielen trennte sich Jakob Ingebrigtsen von seinem langjährigen Trainer: Vater Gjert.
Der Papa hatte zuvor schon zwei andere Söhne zu Weltklasse-Athleten geformt. Henrik (34) wurde 2012 Europameister über 1500 m, Filip (32) gewann diesen Titel vier Jahre später ebenfalls. Zu Beginn des Jahres 2022 kam es zum grossen Knall: Die Brüder setzten ihren Vater als Trainer ab.
Wurde diese Trennung anfangs mit gesundheitlichen Beschwerden begründet, so sickerte später durch, dass das Tischtuch zwischen Vater und Söhnen zerschnitten sei. Der anschliessende Versuch, die Situation familienintern zu lösen, scheiterte. Der Streit eskalierte gar so sehr, dass er vor Gericht landete.
Die Kinder, neben den drei Läufern auch eine 19-jährige Tochter, die ihre Karriere früh beendete, werfen ihrem Vater jahrelange psychische und physische Misshandlung vor. Er habe ihnen die Freude an dem Sport genommen, den sie einst liebten.
Seit dem vergangenen Monat muss sich Gjert Ingebrigtsen vor dem Bezirksgericht in Sandnes, in der Nähe der Stadt Stavanger, verantworten. Angeklagt ist der 59-Jährige wegen des Vorwurfs körperlicher, geistiger und verbaler Misshandlung seiner Kinder.
Die Rede ist von einer toxischen Atmosphäre im Hause Ingebrigtsen, die besonders in der Kindheit und Jugend belastend gewesen sei. «Wir sind mit einem Vater aufgewachsen, der sehr aggressiv und kontrollierend war und im Rahmen seiner Erziehung körperliche Gewalt und Drohungen gebraucht hat», schilderten die drei Athleten im Herbst 2023 in der Zeitung «Verdens Gang».
Der Vater soll in sieben Fällen gegen einen Paragrafen im norwegischen Strafgesetzbuch verstossen haben, der Missbrauch in engen Beziehungen regelt. Ihm drohen bei einer Verurteilung bis zu sechs Jahre Gefängnis.
Die Öffentlichkeit im sportbegeisterten Land verfolgt das Drama gebannt. Denn die Familie war durch die TV-Doku-Serie «Team Ingebrigtsen», die zwischen 2016 und 2021 lief, bekannt geworden. Vor allem Jakob Ingebrigtsen, schon zwei Mal Europas Leichtathlet des Jahres, ist in Norwegen ein Superstar. Er ist Weltrekordhalter über 2000 m und 3000 m, zwei Distanzen, die an grossen Meisterschaften nicht gelaufen werden.
Am fünften Prozesstag sprach Gjert Ingebrigtsen über sein Aufwachsen in Armut und vergoss dabei Tränen. Wahrscheinlich könne seine Rolle als Vater als «überfürsorglich» bezeichnet werden, meinte er. Er bestätigte den Vorwurf, seine Tochter Ingrid mit einem Handtuch geschlagen zu haben, allerdings nicht wie behauptet ins Gesicht, sondern auf die Hand. Überhaupt fühlt er sich unschuldig. Seine Verteidigerin sagte gleich zu Beginn, ihr Mandant bestreite, irgendwelche Straftaten begangen zu haben.
Vorgespielt wurde im Gericht eine Aufnahme, die Henrik Ingebrigtsen ohne das Wissen seiner Eltern gemacht hatte, als er ihnen sagte, dass er den Vater nicht mehr als Trainer haben wolle. Die Aufnahme bezeichnete Gjert Ingebrigtsen vor Gericht als «Verrat». Zu hören ist, wie er dem Sohn damals entgegnete: «Dann habe ich nichts mehr.» Seine Anteile am gemeinsamen Unternehmen der Familie kauften ihm die Söhne daraufhin ab.
Jakob Ingebrigtsen erzählte beim Prozessauftakt von Schlägen auf den Kopf und Tritten in den Bauch und von einer Kindheit, die von Angst geprägt gewesen sei. Das belaste ihn bis heute emotional, da es ihm schwerfalle, seine Gefühle auszudrücken. «Ich wurde zu einer Maschine, die einfach nur funktionierte.»
Gjert bezeichne er nicht mehr als seinen Vater: «Ich denke, dass die Dinge, die er sagt, tut und getan hat, eines Vaters nicht würdig sind.» Auch zu seiner Mutter Tone habe er den Kontakt abgebrochen.
Der älteste Bruder des Olympiasiegers, Kristoffer Ingebrigtsen, beschrieb seinen Vater als «sehr strengen, wütenden Mann», den selbst Kleinigkeiten auf die Palme gebracht hätten. Ähnliche Attribute wählt Henrik Ingebrigtsen für seinen Erzeuger – «stur, konfliktscheu und konfrontativ». Seit er selber Vater sei, denke er oft: «Er war nie mein Vater.» Er habe kein besseres Wort dafür, aber Gjert sei mehr wie ein Kapitän gewesen: «Er stand da und gab Befehle.»
Ein anderer Bruder, Martin Ingebrigtsen, widersprach seinen Geschwistern. Mit vielen ihrer Schilderungen sei er nicht einverstanden. Er sei nie Zeuge von häuslicher Gewalt gewesen und könne sich auch nicht daran erinnern, dass sein Vater Gewalt gegen seinen jüngeren Bruder Jakob ausgeübt habe. Seine Kindheit beschrieb er als «harmonisch».
Der Auftritt von Tone Ingebrigtsen am Montagmorgen war mit Spannung erwartet worden. Doch die zahlreichen Reporter vor Ort und die Öffentlichkeit wurden enttäuscht. Die Mutter der Athleten, die in Begleitung von Gjert vor Gericht erschien, verlangte, hinter geschlossenen Türen reden zu können. Dann werde sie aussagen, sagte die 55-Jährige. Als Ehefrau des Angeklagten hätte sie auch darauf verzichten können.
«Ich bitte um Respekt, dass es mir schwerfällt, hier zu sein», sagte Tone Ingebrigtsen. «Ich bin inmitten derer, die ich liebe.» Das Gericht gab dem Antrag statt. Richter Arild Dommersnes begründete den Ausschluss der Medien damit, dass die Aussage der Mutter so wichtig sei, dass man sie unbedingt vor Gericht hören wolle. Jakob Ingebrigtsen als Ankläger durfte im Saal bleiben. Er hatte für diesen Teil des Prozesses extra ein Trainingslager in Spanien unterbrochen.
Die Staatsanwaltschaft hatte beantragt, mindestens 30 Tage für Gerichtsverhandlungen anzusetzen. Davon ist nun die Hälfte um. Mitte Mai soll das Urteil verkündet werden.
Kein Kind macht das leichtfertig. Tragisch.
Vater und Mutter sollten doch eigentlich das Wohl des Kindes im auge haben und nicht dessen wirtschaftlichen Erfolg...
Oder seh ich was nicht?
Wie schlimm muss es erst für eine Mutter sein, zwischen all den Alphatieren zu sein und den Zwietracht in der eigenen Familie erleben zu müssen.