Nach Doha fliegen oder lieber zu Hause bleiben? Dem Chronisten wird allenthalben von der Reise abgeraten. Wer weiss, am Ende wartet eine vierzehntägige Quarantäne im Morgenland.
Nun, die Reise ist sehr angenehm. Das Flugzeug nicht einmal halbvoll. Kein Anstehen bei der Passkontrolle, die hier manchmal anderthalb Stunden dauert. Weil fast niemand mehr Einlass in die katarische Hauptstadt begehrt.
Eine Besonderheit mahnt den Reisenden daran, dass es besondere Zeiten sind: Alle laufen bei der Einreise nach dem Verlassen des Flugzeugs erst einmal zwischen zwei weit auseinandergestellten Wärmekameras durch. Wer mit Fieber ankommt, erreicht nicht einmal die Passkontrolle, verlässt den Flughafen nicht und wird umgehend nach Hause geschickt. Hinter der Apparatur sitzen zwei Frauen, geschützt mit Atemmasken.
Aber sonst? Doha ist verrückt wie eh und je. Wahrscheinlich ist noch nie eine Stadt – einmal abgesehen vom Aufbau der grossen Industriestädte in stalinistischen Zeiten (wie Magnitogorsk) – in so kurzer Zeit so massiv ausgebaut worden.
Das Wachstum ist von Jahr zu Jahr ersichtlich. 2004 gastieren die Töffstars zum ersten Mal in Doha. Bei der Fahrt entlang der Küstenstrasse (Corniche) fällt das pyramidenförmige Sheraton-Hotel an der «Waterfront» auf. Weil es praktisch das einzige bemerkenswerte Gebäude ist.
16 Jahre später ist der Bau kaum mehr zu erkennen. Denn nun erhebt sich eine Skyline, die an Manhattan erinnert. Wir wissen aus der Geschichte, dass Rom auch nicht an einem Tag erbaut worden ist. Aber das moderne Doha ist – in geschichtlichen Dimensionen gesehen – fast an einem Tag erbaut worden. Die Einwohnerzahl hat sich im Grossraum Doha in den letzten 30 Jahren auf rund eine Million fast verdoppelt.
Wo ist die Rennstrecke? Die Strasse dorthin ist 2004 fast so schwierig zu finden wie der Weg mit dem «blauen Bähnli» nach Worb im Sketch von Karl Steuer und Ernst Mischler.
Erst wenn der Kreisel am Rande der Stadt erreicht ist, wo es dem Golfplatz entlang geht (dort kostet die Stange Bier gut 20 Stutz) wird es einfacher. Noch ein Kreisel, vorbei an einer Tankstelle und dann beginnt die Autobahn, die schnurgerade durch die topfebene Wüste hinaus zur Rennstrecke führt.
Nun führt eine achtspurige Autobahn durch die Stadt geradewegs zur Rennstrecke. Die liegt jetzt praktisch am Stadtrand. Soeben ist zudem die S-Bahn eröffnet worden. Hier draussen wird auch eine der Arenen für die Fussball-WM gebaut.
Wenn New York die Stadt ist, die nie schläft, dann ist Doha die Stadt, die nicht aufhört zu wachsen. In die Breite und in die Höhe. «Konjunktur-Palmen» (Baukräne) gehören zum Stadtbild.
Die Architektur ist atemberaubend. Auch für den Laien, der nichts von Architektur versteht. Nicht die riesigen Betonklötze der stalinistischen Einheitsarchitektur, die dem Menschen bewusst machen, wie klein er gegenüber der Staatsmacht doch ist. Der Beton ist elegant verbaut, wenig Ecken, kaum abrupte Übergänge, viele eleganten Bögen. Fast wie die «organische Architektur» von Rudolf Steiner. Selbst bei Brücken und Unterführungen sieht, wer will, Ornamente zur Verzierung.
Aber wir sind etwas vom Thema abgekommen. Der GP von Katar in Doha ist einer der internationalen Sportanlässe, der noch stattfinden kann und darf. Allerdings nicht ganz ohne Einschränkungen.
Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, dass gefahren wird. Die Piloten der Klassen Moto3 und Moto2 testeten hier eine Woche vor dem GP. Sie sind also schon da, als der Einreisestopp für Italiener erlassen wird.
Weil die MotoGP-Stars nach ihren Tests eine Woche vorher nach Hause gereist sind, können sie nun nicht mehr zurückkehren. Mehr als die Hälfte des Personals der Königsklasse hat entweder einen italienischen Pass oder lebt in Italien. Es geht nicht nur um Ducati. Auch Suzuki unterhält seine Europa-Basis in Europa. Ein Trick scheiterte in letzter Minute: die MotoGP-Klasse per Charter von Nizza aus einfliegen – Nizza liegt in Frankreich. Nicht in Italien. Aber diese Rosstäuscherei wird abgeblasen, als nicht nur Flüge aus Italien gestrichen werden und generell Italienern die Einreise verboten wird.
So kommt es, dass es nun im Fahrerlager, in der Fahrerlager-Beiz und im Medienzentrum so angenehm ruhig ist. Alles konzipiert für doppelt so viele Benutzerinnen und Benutzer.
So ziemlich die Hälfte der Boxen stehen leer. Oben sind zwar bereits die wunderschönen Namenschilder der MotoGP-Titanen samt Startnummern angebracht. Aber es sind nur leere Betonlöcher. Steinerne Zeugen des Ruhmes, den es hier nicht zu holen gibt.
Und noch etwas fehlt: die jungen, schönen, leicht bekleideten Werbearbeiterinnen, die zum Fahrerlager gehören wie die Ehrendamen zum Schwingfest. Werbebotschaften zieren ihre Kleidchen und Sonnenschirme. Sie tragen sozusagen ihre Kleider zu Markte. Nur zwei stiefeln umher. Sie werben für einen Energiedrink.
Natürlich ist der Virus ein Thema. Aber nur wer sensibilisiert ist, merkt etwas von der Welt-Virus-Krise. Im Hotel läuft im Lift eine Animation mit den wichtigsten Infos, wie man sich vor Ansteckung schützen kann. Dazu gehört hier auch, dass man keine Kamele, Pferde und Esel berühren soll.
Die Restaurants und Märkte sind voll, kaum jemand trägt eine Schutzmaske. Das Tagesgeschehen nimmt seinen Lauf, als sei die Welt mehr oder weniger in Ordnung. Es soll in Katar 12 bestätigte Fälle geben.
Natürlich berichten die Medien über die Virus-Krise. Aber bei weitem nicht in der gleichen Aufmachung und Aufgeregtheit wie in Europa. Gemeldet wird, wie viele Fälle es in den Ländern der Ungläubigen gibt. Das grosse Thema zurzeit: die enorm gestiegene Nachfrage nach Oldtimern. Also nach alten Autos.
Auch im Fahrerlager ist der Virus ein Thema. Logisch. Aber nicht, weil jemand Angst hätte, sich zu infizieren. Sondern weil er so viele organisatorische Schwierigkeiten bereitet. Wo findet das nächste Rennen statt? Der GP von Thailand ist bereits auf den Oktober verschoben. Eigentlich sollte die Reise nun am 5. April nach Austin (Texas) und anschliessend am 19. April weiter nach Argentinien gehen.
Doch niemand rechnet mehr mit diesen Rennen. Ist mein Flug nach Hause annulliert worden? Geht es erst Anfang Mai im spanischen Jerez weiter? Die Flugtickets jetzt schon annullieren? Und wohin sollen die Kisten mit dem Material transportiert werden? Die Höllenmaschinen der Königsklasse sind nach den letzten Tests hiergeblieben. In Kisten verpackt. 400 Tonnen Material, das vier Transportmaschinen füllt. Zurück nach Europa? Oder doch direkt nach Amerika? Oder vielleicht gar nach Malaysia?
Die Logistik erzwingt eine baldige Entscheidung. Die Romantik des Morgenlandes wird es an anderen Orten nicht mehr geben.
Der GP von Katar könnte das letzte Rennen für lange Zeit gewesen sein.