Warum gibt es diesen Wahnsinn? Zwei berühmte Männer ohne Beziehung zum Rennsport haben es in einem Satz auf den Punkt gebracht. Der Brite George Mallory sagte auf die Frage, warum er auf den Mount Everest wolle: «Weil er da ist.» Er verliert im Juni 1924 im Alter von 38 Jahren sein Leben beim Versuch, den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Und der grosse Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe hat einmal geschrieben: «Vergnügen sucht der Mann sich in Gefahren.»
Das Rennen auf der Insel Man – «Tourist Trophy» oder kurz TT genannt – ist nur deshalb ein Medien-Thema geblieben, weil jedes Jahr Menschen ihr Leben lassen und weil die Toten gezählt werden. Inzwischen sind es 263. Dabei gehen die namenlosen Helden der Landstrasse bei diesem makaberen «Body Count» vergessen: Traditionell wird am «Mad Sunday» die Strasse für einen Tag abgesperrt und für gewöhnliche Biker freigegeben. In einer Richtung befahrbar. Aufgeputscht durchs Zuschauen hat so mancher Besucher sein Leben gelassen.
Am 28. Mai 1907 gehen Frank Hulbert und Jack Marshall Punkt 10 Uhr als Erste auf die Strecke. Zwei Faktoren sind für die Geburt dieses Rennens entscheidend: In England gilt ein Tempolimit von 20 Meilen pro Stunde (32,18 km/h) und das Verbot von Rennen auf öffentlichen Strassen. Die Inselregierung nützt ihre Teilautonomie, um die öffentlichen Strassen auf der Insel für Rennen freizugeben. Der erste Sieger Charlie Collier erreicht bereits ein Durchschnittstempo von 61,19 km/h. 1925 wird die Schallmauer von 100 km/h durchbrochen. Am 7. Juni 1957 knackt der Schotte Bob McIntyre die 100-mph-Marke. Beim heute gültigen Rundenrekord beträgt die durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit 217,989 km/h. Bei den Rennen der GP-Königsklasse auf Rundstrecken wird ein Durchschnittstempo von weniger als 200 km/h gefahren.
Die Besonderheit, die diesen Wettbewerb von klassischen Rennen unterscheidet: Die «Tourist Trophy» ist ein Rennen gegen die Zeit. Nicht Mann gegen Mann. Es handelt sich ja nicht um eine Rennstrecke, sondern um eine abgesperrte öffentliche Strasse, die viel zu schmal ist zum Überholen. Seit jeher starten die Fahrer paarweise oder einzeln in kurzen Abständen. Heute einzeln. Das bedeutet: Es gibt keinen Kampf Mann gegen Mann. Keine Taktik. Es gibt nur den Wahnsinn, in jeder Situation jede Sekunde herausholen zu müssen.
Mensch gegen die gnadenlos tickende Uhr in der Todeszone. Zahlreich sind die griffigen Sprüche: Roger Federer verliere bei einem Fehler bloss einen Punkt, ein TT-Held das Leben. Oder: Wer die Ideallinie um zehn Zentimeter verfehlt, nimmt die Abzweigung in die Ewigkeit. Das jähe Ende lauert auf jedem Meter. Selbst auf den eigentlich sicheren Geraden kann der Tod die Piloten ereilen: Ein Fahrer verlor sein Leben, als er mit einem vom Motorenlärm aufgescheuchten, über die Strasse galoppierenden Pferd kollidierte.
Die Legende geht, wer die «Tourist Trophy» fahre, müsse vorher schriftlich einwilligen, dass er im Falle eines Falles kremiert wird. Und dazu gibt es eine passende Kaminfeuer-Story: Ein Fahrer vom Kontinent sei tödlich verunglückt und kremiert worden. Seine Mechaniker seien mit der Urne im Bus nach Hause gefahren. Bei einer Zwischenstation in Paris, wo sie auf dem Weg nach Hause etwas Ablenkung im Nachtleben gesucht haben, sei der Bus aufgebrochen und die Urne gestohlen worden. Also hätten sie eine Urne gekauft, etwas Asche hineingetan und dann den Trauernden zu Hause übergeben. Ob das wirklich stimmt, ist nicht überliefert. Aber solche Geschichten passen zum TT-Mythos.
Es gibt unzählige Zeitungsartikel über die «Tourist Trophy» und einige lesenswerte Bücher. Es ist also gut möglich, sich am Bürotisch ein Bild vom verrücktesten Rennen der Welt zu machen. Aber die Faszination dieses Wahnsinns lässt sich eigentlich nicht erklären. Nur erleben. Mit der Erfahrung als Chronist von über 300 klassischen Töff-GP glaubte ich zu wissen, was Rennsport bedeutet. Und liess mich trotzdem einmal zu einem TT-Besuch überreden. Seither weiss ich, dass ich nichts weiss.
Am einfachsten lässt sich die «Tourist Trophy» so erklären: Du sitzt vor einem Pub in einem kleinen Städtchen. Tempolimit 50 oder gar 30. Und dann donnert eine Höllenmaschine mit mehr als 200 km/h vorbei. Es ist ein Tanz in der Todeszone: 60 Kilometer über Schachtdeckel, Bodenwellen, durch mehr als 200 meist nicht einsehbare Kurven, entlang von Hauswänden, Zäunen, Steinmauern, Pfosten und Randsteinen, dazwischen lange Geraden auf offenem Land.
Anders als bei einer vier bis acht Kilometer langen Rundstrecke ist es nahezu unmöglich, sich die unzähligen Details zu merken. Bis in die 1920er-Jahre wurde die Strecke nicht einmal fürs Training abgesperrt. Wer sich alles einprägen wollte, musste es im Alltagsverkehr tun. Die Strecke führt von der Inselhauptstadt Douglas nordwärts durch die Berge bis auf eine Höhe von 621 Metern und wieder zurück nach Douglas.
Das Gefühl, vor dem Pub zu stehen und einen der Wahnsinnigen vorbeirasen zu sehen, ist unbeschreiblich. Körperlich, sinnlich erfahrenes Tempo. Die Besonderheit ist, dass es als Zuschauer an der Strecke unmöglich ist, das Renngeschehen zu überblicken. Vor der Zeit der Smartphones ist ein kleines Transistor-Radio der Schlüssel. Über den kleinen Apparat wird das Rennen vom «Manx Radio» direkt übertragen. Die Fans sitzen bei Regenwetter im Pub und plötzlich springen drei oder vier auf und laufen vor die Tür. Weil sie wissen: Jetzt wird gleich ihr Fahrer vorbeibrausen.
Auf dem Land sind die Maschinen zu hören wie seltsame, wilde, heiser bellende Raubtiere. Wegen der Bodenwellen wird das Hinterrad immer wieder abgehoben, verliert die Bodenhaftung und die Drehzahl des Motors schiesst aufheulend nach oben. Es ist, als ob Bestien in einer Landschaft wie aus einem Film von Rosamunde Pilcher ihr Unwesen treiben. Und es gibt im Radio eine verschlüsselte Sprachregelung. Wenn es in der Radioreportage heisst, der Fahrer sei von der Strecke abgekommen, dann bedeutet das: Sturz, aber ohne Folgen. Wenn es heisst, er sei «perfectly okay», dann wissen alle: Er ist schwer verletzt. Wenn die Meldung kommt: «He was taken by helicopter to the hospital», ist allen klar: Es gibt kaum noch Hoffnung. Ob das heute noch so ist, weiss ich nicht.
Die «Tourist Trophy» ist das einzige Rennen der Welt, bei dem ich als Zuschauer mit blossem Auge erkenne, ob einer wirklich schnell ist. Natürlich sehe ich auf einer Rundstrecke, ob einer vorne oder hinten fährt. Aber ein Unterschied des gefahrenen Tempos ist nicht ersichtlich. Bei der TT aber gibt es eine Stelle, an der Tempo erkennbar wird. Nach der langen Zielgeraden geht es den Hügel (Bray Hill) hinab und unten in der Senke ist eine kleine Bodenwelle, bevor es leicht rechts weitergeht.
Ein paar Wahnsinnige fahren Vollgas über die Gerade, den Hügel hinab und über die Bodenwelle (wo schon mehrere Piloten die Kontrolle über ihre Bikes verloren haben und tödlich verunglückt sind) und weg sind sie. Sie gehen weder vom Gas noch schalten sie runter. Nur wer das am Streckenrand gesehen und das Ächzen und Brüllen der Höllenmaschinen körperlich gespürt hat, versteht, was Wahnsinn im Rennsport ist. Es ist nur eine Handvoll, die ohne zu blinzeln durchrast. Dann kommen jene, die etwas vom Gas gehen, und schliesslich die, die runterschalten, um das Tempo zu verringern.
Am 12. Juni 1976 finden wir die «Tourist Trophy» zum letzten Mal im offiziellen GP-Kalender. Seither wird im GP-Zirkus nur noch auf Rundstrecken gefahren. Nach dem tödlichen Unfall von Gilberto Parlotti bei der TT 1972 hatte Giacomo Agostini entschieden, nie mehr auf der Insel Man zu fahren. Dem Boykott schlossen sich Titanen wie Phil Read und Barry Sheene an. Giacomo Agostini war kein Feigling: Er hat die TT zehnmal gewonnen. Erfolgreichster Schweizer auf der Insel ist Luigi Taveri mit drei Siegen.
Nach dem Verlust des Platzes im GP-Zirkus wird verkündet, das sei das Ende der «Tourist Trophy». Das Gegenteil ist der Fall. Der Mythos TT ist stärker denn je. Ein TT-Start ist viel, viel einfacher und billiger zu bekommen als ein Startplatz im GP-Zirkus. Der TT-Traum lässt sich so ziemlich für jeden lizenzierten Piloten verwirklichen. So wie es für jeden Alpinisten möglich ist, den Mount Everest zu besteigen. Oder es wenigstens zu versuchen. Wer bloss auf der Rundstrecke rast, ist ein Warmduscher. Die letzten wahren Helden überleben die «Tourist Trophy».
PS: Berühmt ist die Insel Man auch wegen der Manx-Katze. Es ist eine Rasse, die sich von den übrigen Katzen dadurch unterscheidet, dass sie keinen Schwanz hat. Die Ursache ist nicht etwa, dass im letzten Jahrhundert während der TT einer um die Rennfahrer herumstreichenden Katze der Schwanz in die Kette einer Rennmaschine geraten ist.
Vielmehr wird dieses Merkmal auf eine Genmutation infolge extremer Inzucht zurückgeführt: Die Manx-Katze lebt seit Jahrhunderten in der Isolation der Insel Man. Manx ist die Bezeichnung der ursprünglichen Sprache der heute etwa 80'000 Inselbewohner. Sie wird heute nur noch von einigen hundert Menschen gesprochen.
Aber nicht übertreiben!