Letztes Viertel, drittes Down und sein Team ist vier Punkte hinten. Russell Wilson lässt sich zurückfallen, scannt das Spielfeld und sieht seinen ungedeckten Wide Receiver. Der Pass sitzt perfekt und reicht für 25 Yards Raumgewinn. «Den Film kennen wir», werden sich die Seahawks-Fans in Seattle gedacht haben. Zu oft haben sie gesehen, wie ihr Quarterback das Spiel im Schlussviertel noch gedreht hat. Doch an diesem Montagabend war es anders.
Denn Wilson ist nicht mehr ihr Quarterback. Nach zehn Jahren in Seattle spielt der 33-Jährige nun für die Denver Broncos. Und mit denen war er zum Saisonstart zu Gast an seiner alten Wirkungsstätte. Es ist eines dieser Spiele, das die NFL so besonders macht. Eines, zu dem sich die Geschichten von selbst schreiben und bei dem das Drama vorprogrammiert ist. Eines, das sich Fans und Spieler gleichermassen fett im Kalender anstreichen.
Und es ist der Grund, weshalb in der American-Football-Liga sogar die Bekanntgabe des Spielplans jeweils heiss ersehnt wird. Dabei geht es nicht einmal darum, wer gegen wen spielt – das ist vorgegeben und bereits nach Ende der vorherigen Saison bekannt. Nein, es geht nur darum, wann sie das tun. Das gibt die NFL jeweils live im Fernsehen bekannt. Und wie in den USA üblich muss dabei natürlich für Drama gesorgt sein.
So kam es, dass Wilson und seine Broncos am ersten Spieltag nach Seattle reisen mussten. Dass es zum Duell zwischen dem Quarterback und Pete Carroll, dem bis zu diesem Spiel einzigen Coach von Wilson in der NFL, kam. Und dass Wilson in seinem ersten Spiel für sein neues Team eine empfindliche Niederlage einstecken musste. Denn Denver war der klare Favorit.
Noch passte aber nicht alles zusammen. Immer wieder merkte man, dass Wilson mit seinen neuen Teamkollegen noch nicht so eingespielt ist, wie er es in Seattle war, was logisch ist. Gleichzeitig waren die Seahawks motiviert, ihrem alten Teamkollegen zu zeigen, dass er die falsche Entscheidung getroffen hat, einen Trade zu verlangen. Um zu diesem Schluss zu kommen, ist es zu früh in der Saison. Zumal Wilson auf lange Sicht mit Denver wohl erfolgreicher sein wird, als es die Seahawks sein werden.
Die lange Sicht zählt an diesem Abend aber nicht. Wilson wird von den Fans kühl empfangen, einige buhen ihn gar aus, als er das Spielfeld zum ersten Mal betritt. Auch nach dem Spiel merkt man die Spannung zwischen ihm und Carroll. Wilson war gegen Ende seiner Zeit in Seattle nicht mehr zufrieden mit der Spielweise des Trainers. Während er mit vielen seiner alten Mitspieler einige Worte wechselt und Wide Receiver DK Metcalf gar sein Trikot inklusive einer langen Widmung überreicht, gibt es für Carroll nur eine kurze Umarmung.
Russ got booed by the home crowd in his return to Lumen Field. pic.twitter.com/lvDwqu9Lyu
— ESPN (@espn) September 12, 2022
Aber genau das wollten ja alle. Dass das Spiel auch noch die dazugehörige Dramatik lieferte, machte den Plan perfekt. Am Ende unterlag Denver 16:17, das wohl siegbringende Field Goal aus 64 Yards vergab Brandon McManus kurz vor Schluss. Und so jubelte der Underdog. Ein weiterer Aspekt, der die NFL so besonders macht. Es ist eine der Sportarten, die von Woche zu Woche am unberechenbarsten ist. Die Faustregel besagt, dass nur rund die Hälfte der mittlerweile 14 Playoff-Teams aus der vorherigen Saison die entscheidende Phase erreichen. Für Spannung ist also immer gesorgt. Auch wegen der Leute, die den Spielplan machen.