Wusstest du noch, dass Surfen überhaupt olympisch ist? Erstmals wurde die Sportart für die letzten Sommerspiele in Tokio ins Programm genommen. Der Wettkampf von damals dürfte den wenigsten Schweizer Zuschauern in Erinnerung geblieben sein. Einerseits war da die Zeitverschiebung und die wegen der Corona-Pandemie wenig begeisternde Stimmung. Andererseits gab es am sandigen Tsurigasaki Beach auch wenig spektakuläre Bilder zu sehen.
Das soll sich in diesem Jahr nun ändern. Die Surfwettkämpfe finden 2024 nämlich auf der Insel Tahiti im französischen Überseegebiet Französisch-Polynesien statt. Einmal um die halbe Welt, mehr als 15'000 Kilometer entfernt.
Warum ausgerechnet mitten in den Südpazifik, wenn es gerade an der französischen Atlantikküste mehrere legendäre Surforte gibt? Der Grund ist einfach: Die Bedingungen haben entschieden. Hossegor, Lacanau oder Biarritz können wunderbare Surfbedingungen bieten, einfach im Sommer viel zu selten. Hochsaison ist dort im September und Oktober, richtig gross werden die Wellen meist erst im Winter.
Surfline ist eine Webseite, die prognostiziert, wie gut die Bedingungen bei den Surfspots auf der ganzen Welt sind. Einer ihrer Prognostiker sagt: «Die Monate Juli und August sind in Frankreich in der Regel weniger gut zum Surfen geeignet, da sich die vorherrschende Sturmfront über dem Nordatlantik nach Norden zurückzieht und sich in den Sommermonaten etwas abschwächt. Dadurch sinken die Chancen auf gute Surfbedingungen in Frankreich erheblich.»
Dass man darum nach Tahiti ausgewichen ist, sei die richtige Entscheidung gewesen. Tatsächlich zeigen die Daten von Surfline, dass dort im Juli und August an rund 60 Prozent der Tage wettkampftaugliche Bedingungen herrschen. In Festland-Frankreich wären es zwischen 20 und 30 Prozent. Während der Wettkampftage der letzten Olympischen Spiele in Tokio habe die durchschnittliche Wellengrösse an der Atlantikküste weniger als einen Meter betragen. In Tahiti waren die Wellen zur gleichen Zeit zwischen einem und über drei Metern gross.
So kommt Teahupo’o zum Handkuss – ein legendärer Surfsport an der bergigen Südwestküste Tahitis. Unter Surfern gilt der Ort als Perle der Natur.
Die Wellen kommen aus südlicher Richtung rein und brechen aus grosser Tiefe an einem steil ansteigenden und flach endenden Riff, das vor einer Lagune liegt. Das sorgt regelmässig für Wellen zwischen zwei und drei Metern Grösse – an besonders spektakulären Tagen können sie gar bis auf sechs Meter anwachsen. Aufgrund der grossen Wassermassen sind die Wellen auch schwer und die sogenannte Tube (der Tunnel in der brechenden Welle) gross. Die Ritte bei Teahupo’o gelten als kurz (zwischen 60 und 90 Metern), aber intensiv und darum auch für die Profis äusserst schwierig zu meistern.
Die Olympia-Organisatoren hoffen so auf spektakuläre Bilder. Einerseits, weil die Wellen an der Tahiti-Küste als besonders fotogen gelten und sie gut aussehen, auch wenn sie nicht gerade riesig sind. Andererseits, weil die Landschaft um Teahupo’o auch sonst spektakulär ist. Und nicht zu guter Letzt, weil einige der weltbesten Surfer vor Ort sein werden: John John Florence, Gabriel Medina, Kauli Vaast, Molly Picklum oder Vahine Fierro.
Mit viel Spektakel geht gerade beim Surfen oft auch viel Gefahr einher. Der Name Teahupo’o (tahitisch) bedeutet auf Deutsch übersetzt etwa so viel wie Schädelhaufen. Der Grund für diesen Namen findet sich zwar in einer historischen Schlacht zwischen Ureinwohner-Stämmen und nicht Surfwettbewerben. Trotzdem kam es an der Südwestküste Tahitis auch beim Wellenreiten schon zu Todesfällen.
«Da könnte während der Olympischen Spiele echt jemand sterben», sagt der frühere australische Profisurfer Bede Durbidge gegenüber «Courier-Mail». Es werde aber auch die beste Unterhaltung, die wir je gesehen haben, meint der 41-Jährige. Nathan Hedge, der jahrelange Erfahrung aus Teahupo’o hat, stimmt dem zu: «Bei jedem Ritt dort hast du das Gefühl, um dein Leben zu kämpfen.» Er habe sich selbst schon verletzt – ausgerenkte Schulter oder ausgeschlagene Zähne – und habe zugeschaut, wie Kollegen mit dem Rettungs-Jetski hätten abtransportiert werden müssen. «Entweder du reitest die beste Welle deiner Karriere oder du kassierst die heftigste Tracht Prügel deiner Karriere», fasst Hedge zusammen.
Die Gefahr auf Teahupo’o liegt in der Geografie und Topografie begraben. Vor dem Riff ist das Meer extrem tief, die Wellen bringen also viel Wasser und somit Gewicht und Energie mit. Dann treffen sie auf das Riff, wo das Wasser schnell flach wird. Wo die Surfer die Welle reiten, sind teilweise nur noch 90 Zentimeter Wasser über den Korallen und Steinen – ein Sturz könnte verheerend sein. Da die mitgebrachte Energie der Wellen irgendwo hin muss, entstehen starke Unterströmungen, in denen das Wasser ins offene Meer zurückfliesst.
Wie gefährlich der Surfspot vor Tahiti sein kann, musste vor rund zwei Wochen auch ein australischer Fotograf erfahren. Der 19-jährige Byron Mcloughlin wurde von einer grossen Welle erfasst, herumgeworfen und 150 Meter davongespült. Als er wieder fest auf seinem Board sass, wurde er doch noch ohnmächtig, ertrank beinahe und verbrachte insgesamt zwei Tage in einem künstlichen Koma.
Byron Mcloughlin es rescatado flotando inconsciente en Teahupo'o: Byron Mcloughlin, de 19 años, estaba haciendo fotos sobre una tabla de bodyboard inflable antes de aparecer flotando inconsciente.
— Surf 30 (@surf30) July 12, 2024
La ola de Teahupo'o, sede de los Juegos Olímpicos de… https://t.co/A8tKLQevrP pic.twitter.com/UkEJWSTUs8
Viele Surfer, die bei den Olympischen Spielen teilnehmen, sind routiniert genug und haben die Wellen bei Teahupo’o bereits geritten. Doch es wird auch einige Rookies dabeihaben, die vor einer riesigen Herausforderung stehen – etwa die 14-jährige Chinesin Siqi Yang. Das werde sicher interessant, sagt Medaillen-Anwärterin Molly Picklum. Das IOC werde aber sicherlich pingelig sein, wenn es um die Sicherheit bei den Bedingungen geht. «Aber ehrlich gesagt, selbst der Teahupo'o in Spassgrösse wird für sie immer noch beängstigend und gefährlich sein.»
Dass die Olympischen Spiele auf Tahiti zu Gast sind, ist nicht bei allen Einheimischen beliebt. Sie fürchten um das Korallenriff, das Teahupo’o so speziell macht. Konkret sorgten sie sich um einen Turm, wo die Punktrichter und TV-Angestellten ihre Arbeit ausrichten werden. Bislang existierte bereits eine Konstruktion aus Holz für die Events der Surftour. Doch dieser Turm war den Organisatoren der Spiele zu klein und nach jahrelanger Erosion zu wenig stabil.
So wurde ein neuer Aluminium-Turm auf Betonsockel errichtet und per Unterseekabel mit Strom und Internet versorgt. Auch eine Toilette mit Entwässerungssystem wurde eingerichtet.
Ein Teil der Bevölkerung war besorgt, dass bei den Bauarbeiten die Natur unter Wasser beschädigt würde. «Sobald sie anfangen, die Korallen zu zerstören, müssen wir einschreiten», sagte Milton Parker von der Heimatschutzorganisation Atihau Association zur französischen Nachrichtenagentur AFP. Die lokalen Behörden standen von Beginn weg hinter den Plänen. «Die Natur wird sich wieder erholen», sagte Moetai Brotherson, der Präsident von Französisch-Polynesien.
Trotz einer Online-Petition mit 100'000 Unterschriften wurde der Bau am Ende durchgeführt. Die Organisatoren beteuerten, dass für den neuen Turm die Fundamente der alten Konstruktion wiederverwendet wurde, und dass sämtliche Korallen, die bei den Arbeiten gefährdet gewesen wären, an Orte ausserhalb der Bauzone verlegt wurden. Wie sehr die Bauarbeiten der Unterwasser-Natur vor Teahupo’o tatsächlich geschadet haben, wird sich aber erst in ein paar Jahren zeigen.
Die Surf-Wettbewerbe bei den Olympischen Spielen 2024 finden zwischen dem 27. Juli und dem 5. August statt. Im Vorfeld werden die vier Tage in diesem zehntägigen Fenster mit den besten Bedingungen auserkoren.
24 Surferinnen und 24 Surfer treten in einem Tableau-System gegeneinander an. In der ersten Runde sind es acht Dreiergruppen. Der Sieger steht direkt in den Achtelfinals, die anderen zwei Surfer machen in einem Direktduell die Achtelfinal-Teilnahme aus. So kommt jeder Surfer auf mindestens zwei Chancen. Dann geht es im K.-o.-System mit Achtelfinal, Viertelfinal, Halbfinal, Bronze-Match und Final weiter.
Jede Runde dauert zwischen 20 und 35 Minuten. Dabei können die Surfer so viele Wellen reiten, wie sie möchten. Nur die besten zwei Ritte kommen in die Wertung. Beurteilt werden sie von fünf Kampfrichtern auf einer Skala von 1 bis 10, wobei die jeweils höchste und tiefste Note gestrichen werden. Die Richter beurteilen dabei über den Schwierigkeitsgrad der Welle und der Manöver, die Innovation und Abwechslung des Ritts, die Vielfalt und Kombination der Tricks sowie Tempo, Kraft und Flow des Ritts.
Wer Surfen bei diesen Olympischen Spielen schauen will, braucht Ausdauer. Mit 12 Stunden Zeitverschiebung nach Tahiti beginnen die Wettkämpfe jeweils (und je nach Wetter) um 19 Uhr mitteleuropäische Zeit und dauern gerade in der ersten Runde bis tief in die Nacht.