An der Pressekonferenz am Montag goss der Box-Weltverband rund um die Debatte von Imane Khelif und Lin Yu-ting noch mehr Öl ins Feuer. Sie hätten wissenschaftliche Tests, die zeigen, dass die beiden männlich seien, behauptete IBA-Präsident Umar Kremlew. Dann wetterte er gegen den Präsidenten des Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, und verkündete:
Angesichts der turbulenten Geschichte der IBA eine ironisch anmutende Aussage. Eine Übersicht.
Bei der International Boxing Association (IBA) handelt es sich um den ehemaligen Weltverband des olympischen Boxsports mit Sitz in Lausanne. Bis 2023 war der Verband vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) als Vertretung des Boxsports anerkannt. Unter anderem organisierte er die alle zwei Jahre stattfindenden Amateur-Boxweltmeisterschaften der Männer und Frauen. Zudem legte er die international gültigen Regelwerke des olympischen Boxens fest und bildete Kampfrichter für internationale Wettbewerbe aus.
Auf der offiziellen Webseite heisst es:
Doch wie ein Blick auf die Geschichte der IBA zeigt, sind ihre Standards gar nicht so «transparent», wie sie versuchen Glauben zu machen.
Gegründet wurde der Verband 1946 als Nachfolgeorganisation der FIBA (Fédération Internationale de Boxe Amateur) und hiess damals noch AIBA (Assocation Internationale de Boxe Amatuere).
1986 wurde der Pakistaner Anwar Chowdhry zum vierten Präsident des Verbandes gewählt. 20 Jahre lang stand er an dessen Spitze und revolutionierte während seiner Präsidentschaft ein computergestütztes Punktesystem, das bis 2013 in Gebrauch war. Er sorgte allerdings nicht nur für positive Schlagzeilen: Immer wieder geriet er wegen seiner Finanzen unter Beschuss.
Der ehemalige AIBA-Präsident soll im Jahr 2006 350'000 Dollar von seinem Schweizer Bankkonto abgehoben haben. Eine hohe Summe für einen pensionierten Mann, der über eine Non-Profit-Organisation präsidiert. Die Diskussion hatte Konsequenzen – noch im selben Jahr wurde Chowdhry abgewählt.
An Chowdhrys Stelle trat der Taiwanese Wu Ching-kuo. Eine Verbesserung führte dieser allerdings nicht herbei. Auch gegen ihn wurden schwerwiegende Vorwürfe wegen finanzieller Misswirtschaft und Unregelmässigkeiten in der Buchführung erhoben. Unter ihm drohte der AIBA der Bankrott, nachdem diverse Investoren die sofortige Rückzahlung an Darlehen und Investitionen in Millionenhöhe gefordert hatten. Geld, dass die AIBA nicht besass.
Um zu verhindern, dass er weiterhin Kontrolle über die AIBA hatte, wurde 2017 ein Interimsmanagementkomitee eingesetzt.
Ein hochrangiges Mitglied der Organisation sagte damals gegenüber dem Guardian:
Auch das IOC kritisierte die AIBA zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem und drohte mit dem Rückzug des Boxens als olympische Sportart, sollte keine Besserung eintreten. Die Probleme der AIBA lagen nicht bloss in der Überschuldung, sondern auch an immer wieder kritisierten Kampfrichterleistungen an Olympischen Spielen. Unter anderem sollen Kämpfe an den Olympischen Spielen in Rio 2016 manipuliert worden sein. Wie ein Bericht 2021 offiziell bestätigte, hätten die Ring- und Punktrichter am Morgen vor einem Kampftag jeweils gesagt bekommen, wer gewinnen solle.
Das IOC forderte die AIBA im Dezember 2017 dazu auf, bestimmte Schritte zur Besserung zu unternehmen und Dokumente offenzulegen. Doch wie der Abschlussbericht des IOC zeigt, kam es 2018 zu einem Hin und Her zwischen den beiden Institutionen. Das IOC warf der AIBA dabei immer wieder vor, nicht transparent zu sein. So etwa im Mai 2018:
Mitten im noch laufenden Disput wurde im November 2018 der Usbeke Gafur Rachimow zum neuen Interimspräsidenten der AIBA ernannt. Für das IOC wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte: Der Usbeke soll gemäss US-Finanzministerium Schlüsselmitglied der kriminellen Organisation Brothers's Circle sein. Eine kriminelle Gruppe, die sich aus Führern und hochrangigen Mitgliedern mehrerer eurasischer krimineller Gruppen zusammensetzt.
Im Mai 2019 entschied sich das Komitee, die AIBA aufgrund der anhaltenden Mängel und unzureichenden Reformbemühungen zu suspendieren. Sie deutete jedoch an, den Verband nach den Olympischen Spielen in Tokyo 2020 wieder in den Kreis der olympischen Sportverbände aufzunehmen – sofern substanzielle Änderungen umgesetzt würden.
Im Juli 2019 trat Rahimov von seinem Posten als Präsident zurück und am 12. Dezember 2020 trat der Russe Umar Kremlew in dessen Fussstapfen.
Schnell schien der neue Mann eine Lösung für die finanziellen Probleme gefunden zu haben: Im April 2021 unterzeichnete AIBA eine Partnerschaft mit dem russischen Unternehmen Gazprom. Einen Monat später verkündete der Verband, dass er Schulden in Höhe von 10 Millionen Dollar zurückgezahlt habe. Das IOC äusserte Bedenken über diese Partnerschaft – umso mehr, nach dem Russland die Ukraine 2022 überfallen hatte.
Im Dezember 2021 wurde der Verband zwar offiziell in IBA (International Boxing Association) umbenannt, im Hintergrund änderte sich allerdings wenig. So sorgte etwa Kremlews Wiederwahl im Mai 2022 zu Diskussionen, nachdem sein einziger Konkurrent von der Wahl ausgeschlossen worden war. Und als die IBA im Winter 2022 die Partnerschaft mit Gazprom verlängerte, war die Geduld des IOC wieder am Ende.
Das Komitee drohte damit, den Boxsport unter der Führung der IBA bereits 2024 an den Olympischen Spielen in Paris aus dem Programm zu nehmen. Am 22. Juni 2023 wurde diese Drohung Realität. Zwar klagte die IBA beim Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne, blieb damit aber erfolglos. Der Boxwettkampf an den Olympischen Spielen in Paris wird daher unter der Führung des IOC durchgeführt.
Dass die IBA im Zuge der Diskussion um die Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-ting scharf gegen das IOC schiesst, überrascht angesichts der ganzen Vorgeschichte nicht.
Kremlew versucht sich in der ganzen Debatte, als empathischer Gönner zu profilieren. Am 2. August liess er verlauten, dass die IBA der italienischen Boxerin Angela Carini, die den Kampf gegen Imane Khelif aufgegeben hatte, dasselbe IBA-Preisgeld zukommen lassen werde, wie wenn sie Olympiasiegerin geworden wäre.
In einer Mitteilung erklärt er:
An einer Pressekonferenz vom 5. August wiederholte die IBA ihre Behauptungen, wonach Imane Khelif und Lin Yu-ting männlich seien. Beweise oder Resultate von allfälligen Tests legte der Verband aber nach wie vor nicht offen. Dennoch forderte die IBA, dass die beiden Boxerinnen vom Wettbewerb ausgeschlossen werden sollten. Ihr Mitspracherecht und ihre Hoheit in der Regelauslegung hat die IBA mit dem Ausschluss von den Olympischen Spielen aber bereits vor zwei Monaten verloren.