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Wyberhaagge: Sägemehl-Hollywood in Ballenberg mit Beat Schlatter

100 Minuten allerbeste Unterhaltung gibt es beim Stück «Wyberhaage »zu sehen.
100 Minuten allerbeste Unterhaltung gibt es beim Stück «Wyberhaage »zu sehen.Bild: Marcel Bieri
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Sägemehl-Hollywood in Ballenberg, ganz im Sinne Gotthelfs

Ein vaterländisches Freilufttheater, ein Drama rund ums Schwingen in historischen Kostümen, aber auf der Höhe des Zeitgeistes vor imposanter Bergkulisse in Ballenberg. Mit Beat Schlatter in der Hauptrolle und einem Schwingerkönig, der ein wenig an Arnold Schwarzenegger mahnt. Bemerkenswert tiefgründig und 100 Minuten allerbeste Unterhaltung.
08.07.2023, 18:4708.07.2023, 19:50
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Gross ist die Versuchung des Chronisten, einen Verriss zu schreiben. «Wyberhaagge». Drama am Schwingfest. So heisst das Freiluft-Theaterstück. Vaterländischer Kitsch. Schwingen. Sägemehl. Berglandschaft. Ein 1797 erbautes herrschaftliches Bauernhaus in Ballenberg als Kulisse.

Nein, kein Verriss. Es ist ganz einfach grandios. Auch rein technisch. Der Regisseur hat ein Meisterwerk vollbracht: Das Stück wird dynamisch aufgeführt und fesselt bei der Premiere gut und gerne 100 Minuten lang 600 Zuschauende von Anfang bis zum Schluss. Ohne Pause.

Witzige Dialoge, versteckte bitterböser Ironie, zündender Witz und urkomische Szenen, wenn etwa Richard, der grantige Patriarch über die von seiner Tochter sorgsam gehegten und gepflegten Bio-Tomaten uriniert, die doch dem Helden Ben hinterher so köstlich munden. Alles gewürzt mit einer Prise Drama und Romantik und gekrönt mit Hollywood-Action: In der 27. und letzten Szene tritt gar Schwingerkönig Glarner Matthias auf. Elf kurze Einsätze hat er.

Ein Drama rund ums Schwingen sieht man so auch nicht alle Tage.
Ein Drama rund ums Schwingen sieht man so auch nicht alle Tage.Bild: Marcel Bieri

Der längste besteht aus 15 Worten. Noch immer ist er ein Modellathlet. Ein wenig – aber nur ein wenig – mahnt er an Schwarzenegger Arnold, der in einem Action-Streifen («Terminator») auch bloss 17-mal «Hasta La Vista Baby» sagen musste, um noch berühmter zu werden.

Das Drehbuch (61 Seiten lang) für ein gutes Dutzend Profi- und zwei Laien-Schauspieler haben Schlatter Beat und Fellmann Christoph geschrieben. Regie führt der Berner Ulli Pascal und Häni Christian hat den Klangteppich komponiert.

Das fiktive Dorf Alttannen ist eine Touristenattraktion. Gestresste Städter buchen hier nach dem Konzept «Leben wie vor 100 Jahren» Entspannung. So kommt der smarte Eventmanager und Schwingfan Ben aus Zürich ins Berner Oberland. Gespielt wird er vom Schauspieler und Komiker Beat Schlatter.

Bald ist er verstrickt in die dörflichen Intrigen und Konflikte inklusive Scheidung, Alkoholsucht und Mordanschlag. Aber auch in eine Liebesgeschichte, die mit einer Hochzeit endet. Romantik muss sein. Das war auch bei Jeremias Gotthelf schon so.

Die junge Bäuerin Marlis ist eine fabelhafte Schwingerin. Ihr grösster Traum ist es, gegen den König in die Hosen zu steigen und das Frauenschwingen populärer zu machen. Sie darf. Und sie übt für den grossen Kampf mit Vladi, dem Erntehelfer aus Osteuropa, der schliesslich eine feste Anstellung bekommt.

Das Stück heisst «Wyberhaagge» (ein Angriffsschwung im Schwingen). Beim Üben bettet Marlis den Vladi tatsächlich mit einem technisch einwandfreien «Wyberhaagge» und auch noch mit einem Hüfter ins Sägemehl.

Marlis zeigt den Herren wo es lang geht.
Marlis zeigt den Herren wo es lang geht.Bild: Marcel Bieri

Gasser Rolf, der Geschäftsführer des Schwingerverbandes klang bei einer Nachfrage um seine Meinung über den Theater-Auftritt des Königs am Telefon ein wenig skeptisch. Die Zwilchhosen-Gralshüter dürfen beruhigt sein: Das Schwingen wird technisch korrekt aufgeführt und nicht lächerlich gemacht wie damals, als König Rüedu Hundsperger im Zirkus mit einem Bären geschwungen hat.

Ja, sogar eine Episode aus der Schwinger-Historie wird so ganz nebenbei in die Handlung eingestreut. Beim Drehbuch haben möglicherweise boshafte Schwingerfreunde aus dem Bernbiet mitgearbeitet. Da wird doch in einem Dialog in der 8. Szene von der Bauerntochter Mona so nebenbei die ungeheuerliche Behauptung in die Welt gesetzt, der Schläpfer Ernst habe 1983 beim Eidgenössischen in Langenthal zu Unrecht einen Kampf gewonnen.

Zwar hat Schläpfer Ernst in Langenthal keinen Kampf zu Unrecht gewonnen. Aber tatsächlich konnte er seinen Titel von 1980 nur dank veritablem «Noten-Bschiss »verteidigen, weil er von den Kampfrichtern bei der Notengebung am Samstag krass bevorteilt worden ist. Nach gängiger Notenpraxis wäre er nämlich nach den zwei Gestellten gegen Schläfli Ernest und Santschi Johann damals schon am Samstagabend entthront gewesen.

Was dem wertkonservativen Jeremias Gotthelf im 19. Jahrhundert bei diesem Theater nicht so recht gefallen hätte: die Kombination Frauen und Schwingen. Was ihm hingegen diebisches Vergnügen bereitet hätte: Die bisweilen bitterbösen Anspielungen auf den Zeitgeist ganz im Sinne des aufmüpfigen Dichterfürsten: Der Zürcher Eventmanager Ben (das Pendant zum Bauwollenhändler aus Basel in den Gotthelf-Dramen) schmuggelt Marlis mit angeklebtem Schnauz unter italienischem Namen als Vertreter des Tessiner Verbandes ins Teilnehmerfeld des Brünigschwinget. Dort bodigt sie in den ersten drei Gängen nacheinander den Wicki Joel, den Wenger Killian und den Orlik Curdin. Dann fliegt ihre Tarnung auf. Weil der BH reisst. Sie wird disqualifiziert.

Wie ein roter Faden zieht sich der «Kulturkampf» zwischen dem hippen Zürcher Ben und den etwas zurückgebliebenen ländlichen Schlaumeiern aus dem Bernbiet durch die Handlung. Folgerichtig spannt Ben dem einfach gestrickten Markus die schöne Bauerntochter aus. Der treulos Verlassene wird mit dem Töffli aus der Arena brausen. Auf dem Kopf einen Armee-Helm.

Das Schlussbouquet ist kein Jodellied und kein Alphorngruss. Ben fährt nicht Töffli. Er hat das Helikopter-Billett. Als der «Kampf der Geschlechter» wegen eines Alkoholexzesses zu platzen droht, holt Ben den König mit dem Helikopter aus dem Wallis nach Alttannen.

Es ist schon fast 22 Uhr. Die Nacht senkt sich über die Theaterkulisse auf dem Ballenberg. Entre Chien et Loup nennen die Welschen diese Abendstunde so treffend, wenn es nicht mehr hell aber noch nicht dunkel ist.

Das Stück liefert beste Unterhaltung.
Das Stück liefert beste Unterhaltung.Bild: Marcel Bieri

Scheinwerfer flammen auf. Knattern. Es ist, als ob tatsächlich ein Helikopter über der Arena kreist und hinter der Tribüne landet. Der König ist da, hereingeführt von der Zürcher Heldenfigur Ben im Flieger-Overall. Marlis und Glarner Matthias greifen zusammen – und alle Lichter gehen aus.

Black. Das Stück ist zu Ende. Anders als im Tennis (Bille Jean King gegen Bobby Riggs) werden wir bei diesem Jahrhundert-Kampf der Geschlechter nie wissen, wer obenaus geschwungen hat. Sägemehl-Hollywood, ganz im Sinne Gotthelfs. Und allerbeste Unterhaltung.

Aufführungen: 12., 13., 14., 15., 19., 20., 21., 22., 26., 27., 28., 29. Juli sowie 2., 3., 4., 5. 9. 10., 11., 12., 16., 17., 18. 19. August, jeweils um 20.00 Uhr in Ballenberg. In der Schlussszene tritt ein echter Schwingerkönig auf. Neben Glarner Matthias u.a. auch Stucki Christian und Sempach Matthias.

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