Kranzschwinger Burkhalter: «Dann kommt gleich noch eine Bratwurst auf den Grill»
Die Rücktrittsgedanken schwirren bereits seit 2010 im Kopf. Stefan Burkhalter ist zu diesem Zeitpunkt 36-Jährig, hat in diesem Jahr das angesehene Bergfest auf der Schwägalp für sich entschieden. Beim Eidgenössischen in Frauenfeld erringt er ein zweites Mal einen Kranz im wichtigsten Wettkampf des Schwingsports.
Die Bühne in seinem Heimatkanton wäre perfekt gewesen, um sich gebührend zu verabschieden. «Ich musste weiterschwingen, weil mich die Familie daheim sonst nicht ausgehalten hätte», sagt Burkhalter und lacht, als wir ihn auf seinem Hof im thurgauischen Homburg treffen.
Mittlerweile ist der Ostschweizer 48-jährig und der älteste noch aktive Sägemehl-Kämpfer mit eidgenössischen Kranzweihen. Immer wieder aufs Neue habe es ihn in den Fingerspitzen gekitzelt und das Schwingfieber gepackt. Doch nun reicht es. Der Verschleiss an mehreren Gelenken wird grösser, er leidet an Arthrose. Am 1. Juni feiert Burkhalter den 49. Geburtstag und er muss sich nun eingestehen: «Der Körper hat genug.»
Diese Saison will der 111-fache Kranzgewinner noch um das eine oder andere Eichenlaub kämpfen, ehe er die Zwilchhosen an den Nagel hängt. Dafür bleibt in Sachen Trainingsumfang alles beim Alten, er schont sich beim Kreuzheben mit 200 Kilo weiterhin nicht. Zwischen 18 und 20 Trainingsstunden kommen in einer Woche zusammen. Auch, weil sich der Landwirt als eitlen Typ bezeichnet. «Ich will nicht mit einem Ranzen durch die Gegend laufen. Wer so viel wie wir verspeist, der muss sich auch genügend bewegen.»
Mit «wir» meint der 48-Jährige sich und seinen Filius Thomas. Auch er ist dem Schwingsport verfallen. Und auch er hat wie sein Vater eine imposante Statur, ist 186 cm gross und kräftig. Bei den Burkhalters kommt viel auf den Tisch – vorwiegend Fleisch. Gemeinsam verschlingen Stefan (117 kg schwer) und Thomas (110) 1,8 Kilo pro Tag. «Das ergibt locker über 650 Kilogramm Fleisch im Jahr», rechtet der Thurgauer vor.
Aufgrund des ausgeprägten Fleischverzehrs seien schon verschiedentlich anonyme Briefe ins Haus geflattert, in denen die Familie verunglimpft, als Mörder bezeichnet werden. Etwas, das ihn ein müdes Lächeln koste. «Wenn ich so was lese, kommt bei mir gleich noch eine Bratwurst auf den Grill.» Man könne es nicht allen recht machen. Er selbst habe Verständnis für verschiedene Lebensweisen wie etwa Vegetarismus oder Veganismus. Dasselbe erhoffe er sich auch.
Auf der Zielgeraden seiner Karriere hat sich Stefan Burkhalter zusammen mit seinem Sohn noch einen Traum erfüllt. In Pratteln haben sie Historisches erreicht, konnten als erstes Vater-Sohn-Duo in der 127-jährigen Geschichte des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests um die Königskrone kämpfen. «Ein Gänsehautmoment», erinnert sich ein emotionaler Burkhalter zurück. Die Knie der beiden hätten beim Einmarsch in die Arena vor 50'900 Zuschauern mächtig geschlottert, gibt er zu.
Bis dahin hatten die Burkhalters einen steinigen Weg zu überwinden. Schon 2019 in Zug nahmen sie das Unterfangen ins Visier, doch die Resultate des Sohnemanns reichten damals noch nicht aus. Drei Jahre später sah es besser aus, ehe Thomas Burkhalter einen Augenblick lang um seine noch junge Karriere bangen musste.
Beim Thurgauer Kantonalen Anfang Mai kämpfte der 20-Jährige in Müllheim um Eichenlaub. Im Augenblick, als er sich zum Platzrand begeben wollte, setzte sein Kontrahent zum Schwung an. Er fiel platt mit dem Rücken abseits vom Sägemehl auf die harte Unterlage. Nun lag er da. Regungslos. Konnte seine Beine nicht mehr bewegen. «Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Mir sind tausend Gedanken durch den Kopf geschossen. ‹Werde ich jemals wieder Sport treiben können? Lande ich nun im Rollstuhl? Was passiert mit unserem heimischen Betrieb?›»
Nach einigen Stunden kehrte das Gefühl in den Beinen wieder zurück. Der Spinalkanal war blockiert, an Wirbelsäule und Becken wurden Prellungen festgestellt. Vom Schock konnte sich Thomas Burkhalter, der im Sommer seine Lehre als Landwirt abschliessen wird, erholen. Nur manchmal spüre er noch bei kühlen Temperaturen seinen Nacken. Nun investiere er mehr Zeit beim Einwärmen.
Viel Zeit investiert Stefan Burkhalter auch abseits vom Schwingsport. Neben dem Milchwirtschaftsbetrieb ist er auch im Baugewerbe, als Personenschützer oder Chauffeur tätig. Unternehmer und Bob-Olympiasieger Hausi Leutenegger gehört zu seinen Stammkunden und Sponsoren. «Ein sehr grosszügiger Mensch.»
Mit den Stars und Sternchen machte der 48-Jährige aber auch schon kuriose Erfahrungen. Etwa mit der amerikanischen Pop-Rock-Sängerin Pink. Auf dem Rücksitz habe er eine selbst gebrannte CD liegen lassen, die nach der Fahrt plötzlich spurlos verschwunden war. «Ich bin mir todsicher, dass sie mir diese geklaut hat», erzählt er schmunzelnd. Beim Besuch von Cristiano Ronaldo, der zusammen mit seinem Sohn zur Vergabe des Ballon d'Or in Zürich weilte, sei er kurzerhand zum Babysitter umfunktioniert worden.
Bald will Stefan Burkhalter etwas kürzertreten. Auf den Rücktritt freut er sich. «Es wird ein erlösender Augenblick.» Noch weiss er nicht, wo er sein letztes Schwingfest bestreiten möchte. Nur eines ist klar: einen Rücktritt vom Rücktritt werde es keinen geben. 13 Jahre nach den ersten Rücktrittsgedanken steht sein Entschluss fest.
