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Ja, ja, ich weiss: Der Föhn ist warm. Ein trockener Fallwind, der stetig weht, aber auch böig sein kann.
Aber dieser heftige Wind, der einen mit eisiger Kälte bei seltsam stahlblauem Himmel packt, mahnt eben an den Föhn in unseren Bergen. Ein eiskalter Föhn.
Inzwischen weiss ich, was die Warnungen bedeuten, die immer wieder auf meinem Hosentelefon in koreanischer Sprache aufpoppen. Es ist die Empfehlung an alte Leute, sich wegen des eiskalten Windes möglichst nicht aus dem Haus zu begeben. Wahrscheinlich bekomme ich wegen meines Jahrganges diese Warnungen. So wie ich von meiner Hausbank regelmässig zum Seniorenjass eingeladen werde.
Aber jetzt ist mir das Lachen vergangen. Es ist Mittwochnachmittag, 15.15 Ortszeit. Das provisorisch errichtete Medienzentrum beim kleineren der zwei Hockeystadien wird geräumt. Weil der Sturm die festhüttenartige Anlage wegzufegen droht. Es ist das wilde Wetter, das von weit, weit oben im Norden kommt. Von der russischen Halbinsel Kamtschatka, wo Bären, fast so gross wie Elefanten, die gefangenen Fische auf heisser Vulkanasche braten. Kein Wunder, ist dieses Wetter so stürmisch und ungestüm.
Wäre da nicht dieses wilde Wetter, würden wohl die meisten Chronistinnen und Chronisten nicht merken, dass wir vorübergehend in einem fremden Land, auf einem fernen Kontinent leben. Auf einem anderen Planeten.
Die olympischen Organisatoren bauen für eine kurze Zeit eine nahezu perfekt funktionierende Parallelwelt auf. Planet Olympia. Wer sich nicht bewusst dieser Welt entzieht, merkt es kaum mehr.
Es ist Leben in einem geschlossenen System, abgeschottet von der Wirklichkeit des Alltags und mit der totalen Überwachung im Sinne des alten George Orwell («1984»). Wer es zynisch mag: Als Chronist bei den Spielen in Südkorea lebt es sich nicht viel anders wie als Tourist in Nordkorea. Nur dass die Isolation des olympischen Besuchers im Süden freiwillig ist. Im Norden hingegen staatlich verordnet.
Wer zu den Spielen reist, wird gleich am Flughafen akkreditiert (mit einer olympischen Identität versehen, ohne die er fortan nicht einmal mehr zum Frühstücksbuffet gelangen kann), fährt mit der Eisenbahn im reservierten Wagon weiter (nicht plombiert wie einst bei Lenins Reise vom Zürcher Hauptbahnhof nach St.Petersburg, aber reserviert) und wird bei der olympischen Unterkunft empfangen und eingewiesen.
Von nun an steht ein olympisches Bus-Transportsystem zur Verfügung. Für die gewöhnlichen Menschen nicht verfügbar. Die Busse fahren von der Unterkunft direkt zu den verschiedenen Wettkampfstätten – und auch dort gibt es, wenn man sich nicht darum bemüht, keinen Kontakt mit der Wirklichkeit. Man ist unter sich mit Medienschaffenden, olympischen Helden und Versagern, Funktionären.
Nach ein paar Tagen entwickelt sich bei diesem gigantischen Sportspektakel eine seltsame neue Wirklichkeit. Die Storys werden meistens von zu Hause angeregt. Wie es hier vor Ort aussieht, wie die Spiele verlaufen – das sehen die Medien-Bürogeneräle daheim am TV-Schirm und in den sozialen Kanälen und wollen es auch so dargestellt wissen. Und so wird von hier aus vielfach eine künstliche, ferngesteuerte Wirklichkeit wiedergegeben.
Weil so viel los ist – die Spiele sind wie eine Anhäufung von unzähligen Weltmeisterschaften – stellt sich bald einmal eine euphorische Atemlosigkeit ein, befeuert durch permanenten Schlafmangel. Von Arena zu Arena, dort in der Mixed-Zone, dem Kontakthof der olympischen Medienwelt. Schnell, schnell ein paar Worte eines olympischen Helden oder einer olympischen Heldin einfangen (macht nichts, wenn es der bare Unsinn ist, Hauptsache ein Zitat) und, allez hopp, zum nächsten Spektakel. Zwischendrin muss die Story geschrieben sein. Es ist wie das Leben in einer Zentrifuge, die das Leben beschleunigt. Atemlos. Schlaflos. Gedankenlos?
Von Nordkorea habe ich im gleichen Zeitraum mehr mitbekommen als jetzt beim Leben in der «olympischen Blase» von Südkorea. Zum Glück stehen hier die Mediendörfer für Athletinnen und Athleten und für die schreibende und sendende Zunft nicht wie Ghettos ausserhalb der grossen Stadt, fernab vom richtigen Leben. Es ist möglich, zu Fuss in den Alltag hinauszugehen. Dazu eine kleine Episode.
Bevor ich die kurze Geschichte erzähle, gehe ich in mich. Bin ich boshaft? Nein, überhaupt nicht. Bemühe ich mich zu wenig, nicht nur politisch korrekt zu schreiben und zu reden, sondern auch politisch korrekt zu denken? Nein, ich nehme mich jeden Tag aufs Neue ganz fest zusammen.
Also, es geht um folgende Geschichte. Das Mediendorf (wo die Chronistinnen und Chronisten hausen) und das olympische Dorf (für die Athletinnen und die Athleten) liegen hier in Gangneung, wie erwähnt, nicht fernab des richtigen Lebens. Es ist möglich, zu Fuss in die Stadt, in die richtige Welt hinauszugehen. Ich habe ein wunderbares Kaffeehaus gefunden. Nur knapp zehn Minuten Fussmarsch von den olympischen Dörfern. «Premium Boutique Dessert 39 – Bakery & Coffee».
Hier gibt es göttliche Süssspeisen und köstlichen Kaffee und Tee. Und bequeme weisse Lederpolsterstühle.
Und ganz nebenbei erfahren wir hier die hohe Servicekultur. Ppalli-Ppalli – schnell, schnell gehört zur DNA des südkoreanischen Lebens. Jemanden warten lassen ist unschicklich. Damit steht die hiesige Gastronomie im Gegensatz zur gelebten freundlichen Gemütlichkeit des Service in der Beiz oben im «House of Switzerland». Dort hilft dem Gast buddhistisch-bernischer Gleichmut. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte.
Zu den auserlesenen Spezialitäten des Kaffeehauses meines Vertrauens gehört Tiramisu. Und es ist ständig ausverkauft. Warum, konnte ich mir vorerst nicht erklären.
Soeben habe ich mich mit einer Begleitung, deren Name mir gerade entfallen ist, wieder einmal an Kaffee und Kuchen gelabt. Und bin hinter das Geheimnis des ausverkauften Tiramisus gekommen.
Ich weiss nicht recht, ob ich es euch verraten soll. Es ist politisch nicht ganz korrekt.
Also: Ich bin von meiner Begleitung auf die recht häufig ein- und ausgehenden schönen, jungen sportlichen Frauen aus aller Herren Länder aufmerksam gemacht worden. Olympische Heldinnen, ganz klar. Sie tragen nämlich die Akkreditierung um den Hals. Unser Kult-Curler Martin Rios würde sagen: «Olympia-Mäuse».
Da ich als selbsternannter olympischer Intellektueller meistens in schwermütige philosophische Gespräche vertieft bin («refaire le monde»), habe ich diese Kundinnen bisher nicht bemerkt. Auch da bin ich politisch durch und durch korrekt.
Aber nun fällt es mir wie Zuckergebäck von den Augen. Sie huschen ins Lokal, kaufen von den köstlichen Süssigkeiten und schweben wieder davon. Kein Wunder, ist das Tiramisu ständig ausverkauft.
Meine politisch nicht ganz korrekte Theorie (wofür ich mich grad sofort und in aller Form entschuldige) ist die folgende: Hin und wieder entwischen olympische Heldinnen dem gestrengen Alltag. Verlassen den olympischen Planeten und kommen womöglich gar ohne das Wissen ihrer Trainerinnen und Trainer hierher, um verbotenerweise göttliche Speisen zu kosten.
Frei nach Udo Jürgens: Aber bitte mit Sahne!