Auch Thomas Bach muss zur Kenntnis nehmen, wie die Sympathien in Westeuropa bezüglich der russischen Invasion in der Ukraine derzeit verteilt sind. Seine Rede am Mittwoch-Abend am politischen Forum Ruhr zum Thema «Olympia im Spannungsfeld von Sport und Politik» wurde für ihn zum Spiessrutenlaufen.
Zuerst musste sich der 69-jährige Präsident des Olympischen Komitees seinen Weg zum Tagungsort in Essen durch eine Gruppe von 150 mit Plakaten und Parolen bewaffneten Demonstrierende bahnen. Und auch im Saal erhielten die kritischen Fragesteller den wärmeren Applaus als er selbst.
Eine Stunde sprach Bach an diesem 1990 gegründeten Forum, das den gesellschaftspolitischen Dialog fördern soll. Rund 1000 Meinungsmacher und Führungskräfte aus dem Ruhrgebiet sassen im Publikum. Der ehemalige Weltklasse-Fechter Bach gab zwar zu, dass das IOC in der Frage nach der Rückkehr Russlands in den Weltsport «in einem Dilemma steckt».
Gleichzeitig liess er kaum einen Zweifel offen, wie die Exekutive in dieser Frage an seiner Sitzung am Dienstag entscheiden wird. Man wird fortan wieder Athletinnen und Athleten aus Russland und Weissrussland bei Wettkämpfen sehen – unter «neutraler Flagge» und mit einer «strikt neutralen Haltung».
Bach betonte in seiner Ansprache, wie wichtig der friedliche Wettstreit von Athleten der gesamten Welt sei, die «alle die gleichen Regeln befolgen». Und der deutsche Sportfunktionär forderte, dass letztlich «nicht die Politik den Entscheid darüber fällen darf, wer an welchen Sportanlässen teilnimmt». Bach forderte die Respektierung der «verantwortungsvollen Autonomie des Sports».
Zum wiederholten Male erwähnte der IOC-Präsident einen Bericht der UN, der vom IOC fordere, «eine Nichtdiskriminierung von Sportlern aufgrund der Nationalität sicherzustellen». Diese sei für seine Organisation bindend. Sie auszuschliessen, würde einen Präzedenzfall bedeuten, der als Folge «den Zerfall des Sportsystems, wie wir es heute kennen» darstellen würde, prophezeite er.
In den vergangenen Tagen publizierte das IOC bereits die Ergebnisse von Umfragen aus Athletenkommissionen in Afrika und Asien, welche sich klar für eine Rückkehr der Kriegstreiber aussprachen. In der Tat konzentriert sich der Widerstand dazu auf die westliche Welt und Bach kann sich bei der Entscheidungsfindung pro Russland zumindest quantitativ jederzeit auf eine Mehrheit berufen.
Zwar betonte Thomas Bach, dass es in den aktuellen Diskussionen nicht um die Teilnahme von Athletinnen und Athleten mit russischem oder belarussischem Pass an den Olympischen Spielen 2024 in Paris gehe. Dass der bevorstehende IOC-Entscheid jedoch ein eindeutiger Fingerzeig genau darauf ist, kann wohl niemand ernsthaft infrage stellen.
Der langjährige IOC-Funktionär erlebte die Stimmung im Saal bereits während seiner Rede. So brandete Zwischenapplaus auf, als er die Forderung der Ukraine nach «der totalen Isolierung aller Russen» erwähnte. So hatte er es nicht geplant.
Definitiv ein Stimmungstest wurde die Fragerunde, wo er dafür kritisiert wurde, über Sportstätten und nicht über Schlachtfelder zu sprechen, wo seine Einschätzung korrigiert wurde, dass das Zusammentreffen von Russinnen und Ukrainerinnen im Tennis ja gut funktioniere und wo betont wurde, dass die Armee der grösste Sponsor des russischen Sports sei.
Eine ukrainische Diplomatin revidierte eine Aussage Bachs, der vom Spannungsfeld zwischen Politik und Sport sprach: «Es gibt in Russland kein solches Spannungsfeld: Sport ist Politik», sagt sie unter dem Applaus des Publikums. (aargauerzeitung.ch)